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Waffenmangel, Misserfolg, Kälte Neun Gründe, warum es für die Ukraine jetzt brandgefährlich wird

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Ukrainische Soldaten in der Region Saporischschja auf dem Weg zur Front.

Ukrainische Soldaten in der Region Saporischschja auf dem Weg zur Front.

(Foto: picture alliance / Anadolu)

Fehlende Waffen, fehlende Erfolge, kaum Schutz vor der Kälte und einbrechende US-Hilfen: Es gibt eine ganze Reihe von Gründen, warum dieser Winter für die Ukrainer zur Bedrohung wird. Will der Westen das Blatt wenden, muss er auf Turbo schalten.

1. Die Truppen finden zu wenig Schutz vor dem Winter

In der Offensive im Osten des Landes haben die ukrainischen Truppen es nicht geschafft, die russischen Verteidigungsstellungen komplett zu durchbrechen, sondern sind hinter der ersten Linie liegen geblieben. Hätten sie den russisch besetzten Ort Tokmak erreicht und befreit, so hätten sie sich dort ihr Winterquartier einrichten können, mit Schutz gegen die Kälte. Doch unter ständigem Beschuss der Russen mit Artillerie und Drohnen konnten die Ukrainer nicht weiter vormarschieren. Nun müssen sie mit der Witterung auf offenem Gelände zurechtkommen und versuchen, ihr Lager so winterfest wie möglich zu machen. "Die russischen Soldaten auf der anderen Seite haben den Vorteil, dass sie ihre Verteidigungsstellungen bereits über Monate eingerichtet haben", sagt Oberst Markus Reisner ntv.de. Gegen Schnee und Kälte sind sie dadurch besser geschützt.

2. Nicht nur die Frontkämpfer, alle sind ausgelaugt

Für die ukrainischen Truppen ist es der zweite Winter an der Front, und im Gegensatz zur Situation vor einem Jahr fehlt ihnen der Erfolg einer zurückliegenden Offensive als Mutmacher. Im Herbst 2022 hatten die Ukrainer bei Cherson und Charkiw überraschend viel Gelände zurückerobert und gingen entsprechend zuversichtlich in die Mühen des Winters. In diesem Jahr fehlt das. "Eine allgemeine Erschöpfung" beobachtet Militärexperte Nico Lange unter den Frontsoldaten der Ukraine, aber nicht nur dort. Die "dauerhafte physische und psychische Belastung", spüre man bis hinauf in höchste Positionen im Generalstab oder der Regierung. Alle seien "am Rande ihrer physischen Leistungsfähigkeit und deswegen auch psychisch schnell gereizt", beschreibt Lange im NDR-Podcast "Streitkräfte und Strategien". Zuversichtlich zu sein, Zuversicht auszustrahlen, fällt in der Ukraine derzeit schwer.

3. Es mangelt an Munition

Im März 2023 schien die EU Nägel mit Köpfen zu machen: eine Million Schuss binnen eines Jahres - so lautete das Versprechen an die kämpfenden Ukrainer. 155 Millimeter Artilleriemunition sollte es sein, passend für die NATO-Waffen, die westliche Unterstützerstaaten Kiew geliefert hatten und deren Munition die Ukraine selbst nicht herstellen kann. Neun Monate später ist die Bilanz verheerend und wird darum in Brüssel so gut wie möglich verschleiert: Nach Informationen der "Süddeutschen Zeitung" soll die Zahl der bislang aus eigenen Beständen der Länder gelieferten 155 Millimeter-Geschosse bei gerade mal 100.000 liegen.

Auch bestellt ist bislang viel zu wenig und bei der Rüstungsindustrie fehlen die Kapazitäten, sie abzuarbeiten. Ihre Produktionsvolumen sind mit bereits bestehenden Aufträgen aus den USA weitestgehend ausgelastet, außerdem können die Zulieferfirmen der großen Konzerne nicht auf Zuruf ihre Fertigung vervielfachen. Apropos Zulieferer: Etliche Bestandteile kommen - wen wundert’s - aus China, das mit Russland verbündet ist.

Bei einem Verbrauch von mindestens 150.000 Schuss Artilleriemunition pro Monat, in härteren Gefechten auch mal doppelt so viel, wird klar, was das Versagen der EU für die Kampfkraft von Kiews Truppen bedeutet: Die Ukrainer werden in diesem Winter bei weitem nicht die Munitionsmenge zur Verfügung haben, die sie bräuchten.

4. Es mangelt an Waffen

Was für Munition gilt, ist auch für die Lieferung von Waffen ein zentrales Problem: Die Bestände der europäischen Länder sind bedenklich lückenhaft. Auf einen langen, intensiven Krieg in Europa waren allenfalls die Balten und Skandinavier noch eingestellt, für andere, wie Deutschland, war die militärische Mangelverwaltung Normalzustand. Einiges an Artilleriesystemen, Kampf- und Schützenpanzern ist - oft erst nach zähem Ringen - an die Ukraine abgegeben worden.

Doch die Monate, die im Frühjahr verstrichen, als die Ukrainer noch immer auf westliche Waffen warteten, nutzten die russischen Truppen, um sich entlang der Frontlinie einzugraben und so wehrhafte Stellungen zu errichten, dass sie sich kaum durchbrechen ließen. Die Ukraine musste im Sommer ihre Offensive kämpfen, ohne ausreichend Kampfjets, Minenräumer oder Marschflugkörper zu haben. Nun müsste dringend für eine Frühjahrs-Offensive nachgerüstet werden, doch bei vielen EU-Ländern geht es schon ans Eingemachte.

5. Zu wenig, zu spät, zu defensiv

Deutschland verweigert Kiew den potenten Marschflugkörper Taurus und setzt stattdessen auf die Lieferung von Flugabwehrwaffen. Die sind gut, um Infrastruktur und Bevölkerung zu schützen. Gewinnen kann man einen Krieg damit nicht. Deutschlands Verhalten steht für die Haltung der westlichen Unterstützergruppe insgesamt: Man will die Ukraine nicht untergehen sehen, gibt ihr aber nicht das, was sie zum Siegen braucht. Die Folge: Die Ukraine raucht sich auf, weil sie nie in die Lage kommt, mit Masse und wirklich gut ausgestattet die russischen Linien durchstoßen zu können. Wenn sie es dennoch versucht, kostet das etliche Soldatenleben und Gerät. Schaltet der Westen nicht jetzt auf Turbo und bereitet die umfassende Unterstützung einer Frühlingsoffensive vor, dann wird auch 2024 kein Durchbruch und damit keine Wende im Krieg gelingen.

6. Der Krieg verliert an Bewegung, ein langer Stellungskrieg droht

Dass die ukrainische Offensive ihr wichtigstes Ziel verfehlen könnte, hatte kaum jemand im Westen für möglich gehalten, weil man die Forderungen der Ukrainer nicht ernst genommen hatte. Von den Waffenmengen, die der Befehlshaber der Streitkräfte, General Walerij Saluschnyj, für die Offensive als notwendig erklärt hatte, lieferte der Westen nur gut die Hälfte und dachte sich: Wird schon hinhauen. Ging aber schief.

Für einen Erfolg hätte es gelingen müssen, bis zum Asowschen Meer vorzurücken und dadurch einen Keil bis zur Küste in die von Russland eroberte Landbrücke zu schlagen. So hätte man wichtige Nachschub- und Versorgungswege von und zur Halbinsel Krim abschneiden können. Das jedoch gelang nicht. Die Russen hatten ihre Stellungen zu gut ausgebaut, während die Ukraine im Frühjahr auf westliche Waffen wartete.

Mit Saluschnyj hat nun erstmals ein hochrangiger ukrainischer Militär öffentlich festgestellt, dass das wichtigste Ziel der Offensive nicht erreicht wurde. Im britischen "Economist" beschrieb er die als zunehmende "Pattsituation". Die ist gefährlich, denn Russland kämpft nicht allein, sondern hat China, Nordkorea und den Iran im Rücken.

Hervorgerufen wird das Patt auch durch den massenweisen Einsatz von Aufklärungsdrohnen auf beiden Seiten. Keine der beiden Kriegsparteien kann noch einen Schritt machen, ohne vom Gegner erspäht zu werden. Ein überraschender Angriff ist dadurch nicht möglich. Den bräuchte die Ukraine aber, um wieder in die Vorhand zu kommen.

7. Russland hat technologisch aufgeschlossen

In den Anfängen des Krieges wurde das russische Militär immer wieder als unmodern in Kriegsführung und Ausstattung beschrieben. Doch die Russen haben die zurückliegenden 18 Monate genutzt, um gerade bei Drohneneinsatz und elektronischer Kampfführung aufzuschließen. "Die Lücke, die anfangs zwischen ihnen und den mengenmäßig schwächeren aber technisch überlegenen Ukrainern klaffte, schließt sich immer mehr", sagt Sicherheitsexperte Gustav Gressel vom European Council on Foreign Relations im Interview mit ntv.de. Beispielsweise können die Russen die GPS-Steuerung der westlichen Marschflugkörper inzwischen so effektiv stören, dass die Mehrzahl der hochwertigen Raketen ihr Ziel verfehlt.

Vor einem Jahr hätte man im Krieg noch einen Unterschied machen können, wenn man Kiews Truppen mit massenhaft Kampf- und Schützenpanzern versorgt hätte. "Jetzt reicht das allein nicht mehr", sagt Gressel. "Jetzt muss man den Kampf der verbundenen Waffen mit einer sehr engen Integration von elektronischer Kampfführung und Drohnen neu denken." Dass dies im Westen bereits passieren würde, ist nicht zu beobachten. "Die kriegsentscheidenden Waffen", so Gressel, "muss die Ukraine sich selbst basteln."

8. Der Westen gibt sich Illusionen hin

Während Militärexperte Nico Lange in der Ukraine zugleich sehr viel Wut auf den russischen Präsidenten Wladimir Putin und "eine große Entschlossenheit, weiter zu kämpfen" erlebt, scheint der unterstützende Westen schon früher als die kämpfenden Ukrainer zu erschlaffen. In vielen Debatten über die Situation auf dem Schlachtfeld wird derzeit als wahrscheinliche Konsequenz der schwindenden Kampfkraft eine "Verhandlungslösung" als Weg aus dem Krieg dargestellt. Würden die ukrainische Bevölkerung und schließlich auch Präsident Wolodymyr Selenskyj erkennen, dass Russland nicht zu besiegen ist, dann würde Kiew schließlich einwilligen in "Friedensverhandlungen".

Doch für Gespräche braucht es zwei, und noch nie hat der russische Präsident eine Bereitschaft zu Verhandlungen gezeigt oder auch nur erklärt. Erst jüngst bekräftigte er in einer Rede, die Ukraine sei keine eigenständige Nation und müsse unter russische Kontrolle gebracht werden. Die Eroberung des Nachbarlandes propagierte der Kreml von Tag 1 des Krieges an, daraus folgend die militärische Dominanz in ganz Europa.

Verhandlungen stehen diesem Ziel im Weg und sind aus Putins Perspektive auch nicht notwendig. Der Präsident sieht seine Truppen auf der Siegerstraße - nicht zuletzt wegen der Zögerlichkeit westlicher Hilfe für die Ukraine. Aus seiner Sicht bewahrheitet sich - mit einiger Verspätung - nun doch seine ursprüngliche Erwartung, dass der Westen nicht zusammensteht und die Ukraine im Stich lässt.

9. Die USA proben schon den Abgang

Der westlichen Unterstützung, die in den vergangenen 18 Monaten schon zu schwach war, um der Ukraine einen Sieg zu ermöglichen, droht nun ein dramatischer Einbruch: Im US-Kongress können sich Demokraten und Republikaner nicht auf ein neues Hilfspaket einigen, weil die Konservativen sich mit ihrer Zustimmung eine strengere Migrationspolitik erkaufen wollen.

Mehr als 43,6 Milliarden US-Dollar will Präsident Joe Biden "in die industrielle Basis der USA" investieren, um die Kapazitäten bei Waffen- und Munitionsproduktion zu erhöhen und Lagerbestände wieder aufzufüllen. Insgesamt soll das Ukraine-Paket 60 Milliarden Dollar schwer sein. Aber die Republikaner lehnen die Hilfe mehrheitlich ab und wollen nur zustimmen, wenn sie als Gegenleistung schärfere Asylgesetze durchbekommen. Die Demokraten wollen sich nicht erpressen lassen. Das Weiße Haus warnte den Kongress, das Geld für die Ukraine werde "bis Ende des Jahres" ausgehen.

Politiker wie der Grüne Anton Hofreiter oder CSU-Mann Manfred Weber versuchen, ihren europäischen Kollegen kurz vor dem nächsten EU-Gipfel die dramatische Lage klarzumachen: "Jetzt kommt es umso mehr auf Europa an", sagte Hofreiter dem RND und drängte die europäischen Partner, "schnell und umfangreich" Waffensysteme bei der Rüstungsindustrie zu bestellen. Weber, Chef der europäischen Konservativen, warnte: "Wenn die Ukraine diesen Krieg verliert, wird es keinen Frieden geben, Putin wird uns weiter attackieren." Auch er forderte die Staats- und Regierungschefs zu weiteren Hilfen auf. "Der EU-Gipfel nächste Woche muss ein klares Signal der Unterstützung aussenden, wir stehen an der Seite der Ukraine."

Quelle: ntv.de

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