Plädoyer in "NSU 2.0"-Prozess Staatsanwaltschaft fordert siebeneinhalb Jahre Haft
24.10.2022, 18:47 Uhr
Der Angeklagte im "NSU 2.0"-Prozess soll nach dem Willen der Staatsanwaltschaft mehr als sieben Jahre in Haft.
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Mehr als 80 Drohschreiben werden an Vertreter des öffentlichen Lebens geschickt. Vor Gericht steht ein 54-Jähriger, dessen Schuld die Anklage für erwiesen hält. Die Nebenklage zweifelt indes daran, dass der Mann alle Schreiben allein verfasst hat. Sie hat weiter einen Polizisten als Komplizen im Verdacht.
Im Prozess um die "NSU 2.0"-Drohschreiben hat die Frankfurter Staatsanwaltschaft eine Haftstrafe von siebeneinhalb Jahren gegen den Angeklagten Alexander M. gefordert. Verurteilt werden soll er unter anderem wegen Beleidigung und versuchter Nötigung, Störung des öffentlichen Friedens und Volksverhetzung. Oberstaatsanwalt Sinan Akdogan warf M. in seinem Schlussvortrag vor dem Frankfurter Landgericht vor, der Verfasser von insgesamt 81 Drohschreiben zu sein, die per Email, Fax oder SMS an Rechtsanwälte, Politikerinnen, Journalistinnen und Vertreter des öffentlichen Lebens gerichtet und mit "NSU 2.0" unterzeichnet waren. Auch Bombendrohungen gegen Gerichte habe der heute 54-Jährige versendet. Der Angeklagte hatte die Vorwürfe in dem Verfahren zurückgewiesen.
Es bestehe kein Zweifel daran, dass M. der Verfasser gewesen sei, sagte der Anklagevertreter weiter. M. habe personenbezogene Daten über die Opfer gesammelt und sich dafür unter anderem als Polizist ausgegeben. Es handele sich um einen hochintelligenten Täter, in dessen Wohnung unter anderem Bücher zu "Methoden der Manipulation" gefunden worden seien. Der Absender "NSU 2.0" spielt auf die rechtsextreme Terrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) an.
Die Nebenklagevertreterin hingegen kritisierte den Ermittlungsansatz, von einem Einzeltäter auszugehen. Zumindest für das allererste Drohschreiben komme ein Alternativtäter in Betracht. Und auch die Frage der umfangreichen Datenabfragen zu der Frankfurter Rechtsanwältin Seda Basay-Yildiz sei aus Sicht der Nebenklage nicht geklärt worden.
Wie ein "schlecht erzogenes Kind"
Vor dem eigentlichen Plädoyer wies Akdogan Vorwürfe zurück, die Ermittler hätten nicht umfangreich ermittelt und weitere mögliche Verbindungen in ihre Untersuchungen einbezogen. Man habe unter Hochdruck gearbeitet, um die "unsägliche und schreckliche Drohserie" aufzuklären. Der Vorwurf, dass nicht ausreichend ermittelt worden sei, wurde unter anderem von der Frankfurter Rechtsanwältin und Nebenklägerin Seda Basay-Yildiz erhoben, die ebenfalls bedroht worden war. Sie geht davon aus, dass das erste der Schreiben nicht vom Angeklagten, sondern von einem Frankfurter Polizisten versendet wurde.
Akdogan kritisierte das Verhalten von M. vor Gericht: "Wir haben viel von ihm erduldet. Der Angeklagte hat hier eine Bühne bekommen." Teilweise habe er sich aufgeführt wie ein "schlecht erzogenes Kind" - etwa als er am ersten Prozesstag Medienvertretern grinsend den Mittelfinger entgegengestreckt oder bei der Aussage eines Zeugen mit der Faust auf den Tisch geschlagen habe.
Antonia von der Behrens, die Anwältin der als Nebenklägerin auftretenden Basay-Yildiz, sah trotz akribischer Aufklärungsbemühungen des Gerichts immer noch offene Fragen. "Die NSU-Drohserie konnte aufgeklärt werden." Es sei hingegen nicht aufgeklärt worden, wer im August 2018 das erste Drohschreiben an ihre Mandantin verschickt habe und wie M. an die persönlichen Daten gelangt sei.
Nur kurz vor dem ersten Drohfax waren im 1. Polizeirevier in der Frankfurter Innenstand insgesamt 17 Angaben zu Basay-Yildiz und ihrer Familie in insgesamt drei Datenbanken abgefragt worden. Es sei nicht nachvollziehbar, dass diese umfangreiche Abfrage aufgrund eines Telefonanrufs eines angeblichen Kollegen erfolgt sei, so die Anwältin. Sie geht von einem Alternativtäter aus - einem Beamten des Reviers, gegen den auch im Zusammenhang mit einer rechtsextremen Chatgruppe Ermittlungen laufen. Als Zeuge im Prozess hatte er von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch gemacht.
Quelle: ntv.de, jwu/dpa