Streit über Afghanistan bei Lanz"Taliban fester Teil der politischen Landschaft"

Der Bundestag segnet mehrheitlich das Bundeswehrmandat zur Evakuierung in Afghanistan ab. Lediglich Linke und AFD sind sich uneinig. Bei der Talkshow von Markus Lanz erklärt Linken-Co-Chefin Janine Wissler das Abstimmungsverhalten ihrer Abgeordneten - und bekommt Zustimmung von einem Afghanistan-Experten.
Es gibt Situationen, die hasst ein Journalist. Da ist man ernstlich entsetzt über eine Bemerkung, einen Artikel oder einen Beitrag, und dann muss man plötzlich im Interview erkennen, dass man falsch liegt. Die Aufgabe, ein solches Gespräch zu retten, hat am Mittwochabend Markus Lanz im ZDF mit Bravour gemeistert.
Doch von vorne: Erst einmal muss sich die Linken-Co-Vorsitzende Janine Wissler gegen den Vorwurf verteidigen, dass sich bei der Bundestagsabstimmung über das Bundeswehrmandat zur Evakuierung von deutschen Staatsbürgern und Ortshelfern aus Afghanistan der größte Teil der Linken-Abgeordneten enthalten hatte. Wisslers Begründung fällt ein wenig schwach aus: Einerseits habe man sich zwar für die Evakuierung aussprechen wollen, andererseits seien zu wenig Ortskräfte gerettet worden. "Ein Desaster für die Bundesregierung", so Wissler. Außerdem hätte man viel früher mit den Evakuierungsmaßnahmen beginnen müssen.
Ehrliches Justizsystem der Taliban?
Dann konfrontiert Lanz die Politikerin mit einem Beitrag, der vor einigen Tagen auf der Webseite der Linken-Untergruppe "Marx21" erschienen war. Was er nicht sagte oder vielleicht auch nicht wusste: Der Beitrag war von den beiden Anthropologen Nancy Lindisfarne und Jonathan Neale verfasst worden. Das sind etablierte Wissenschaftler, die mehrere Jahrzehnte in Afghanistan geforscht haben. Neale hat ein Buch über Lastenträger im Himalaya geschrieben, das auch in Deutschland erschienen ist. In dem Beitrag schreiben die beiden unter anderem:
"Entscheidend ist, dass die Taliban in den von ihnen kontrollierten ländlichen Gebieten ein ehrliches Justizsystem betrieben haben. Ihr Ruf ist so gut, dass sich viele Menschen, die in den Städten in Zivilprozesse verwickelt sind, darauf geeinigt haben, dass beide Parteien sich an Taliban-Richter auf dem Land wenden. Dies ermöglicht ihnen eine schnelle, billige und faire Rechtsprechung ohne hohe Bestechungsgelder."
Und so kam die Frage auf: Sind die Linken etwa Taliban-Freunde?
"Drogenbarone und korrupte Warlords"
Das war der Auftritt von Emran Feroz. Der in Österreich geborene Sohn afghanischer Eltern ist Journalist und Autor. Sein Buch "Der längste Krieg" ist diese Woche erschienen. Darin beschreibt er die Entwicklung Afghanistans aus seiner Sicht und aus dem Blickwinkel seiner Landsleute.
"In den letzten 20 Jahren haben sich westliche Kräfte in Afghanistan mit korrupten Drogenbaronen, Warlords und anderen fragwürdigen Personen verbündet - und sich gleichzeitig Demokratie, Menschenrechte und all diese Dinge auf die Fahnen geschrieben", analysiert er. "Diese Menschen in Afghanistan wollten nie eine demokratische Gesellschaft aufbauen. Sie haben alle Institutionen ausgehöhlt und sich persönlich bereichert. Die standen den Taliban in nichts nach." Westliche Regierungen hätten "mit Koffern voller Geld" versucht, korrupte Politiker zu kaufen, statt sie als Kriegsverbrecher anzuklagen, sagt Feroz.
Schattenregierungen der Taliban
Die Taliban seien nicht plötzlich da gewesen. "Sie sind keine isolierten Akteure, sondern ein fester Teil der politischen Landschaft", erklärt Feroz. In den letzten 20 Jahren habe man im Westen verdrängt, dass sich die Taliban in den Gebieten der Bezirksstädte festgesetzt und dort Schattenregierungen gebildet haben. Geld aus dem Westen hätten sie verschmäht. Sie seien nicht korrupt gewesen.
Von der westlichen Besetzung Afghanistans habe eine kleine, urbane Schicht profitiert. Opfer seien Menschen auf dem Land gewesen. "Denen wurde viel Schaden zugefügt", so Feroz. Immer wieder habe es Drohnenangriffe auf Dörfer gegeben, Hochzeitsgesellschaften seien beschossen worden.
Krieg gegen den Terror nicht erfolgreich
Die Annahme, der Krieg gegen den Terror der letzten 20 Jahre sei ein Erfolg gewesen, weist Feroz zurück. Im Gegenteil. Die Terrororganisation Al-Qaida habe sich auf weitere Länder ausweiten können. "Und seit Jahren wird auf Kosten afghanischer Menschen in den westlichen Ländern Wahlkampf gemacht", kritisiert Feroz.
Sicher war es nicht ganz so geplant - doch diese Sendung hat einen für viele Zuschauer neuen Blick auf die Situation in Afghanistan ermöglicht. Vor allem auf den ländlichen Teil dieses von jahrzehntelangen Bürgerkriegen belasteten Landes. Und dort leben etwa 80 Prozent der Afghanen.