Der FDP-Chef lobt den CDU-Vorsitzenden, die SPD keilt gegen die Grünen: In einem Monat ist Bundestagswahl, und das merkt man auch bei der Bundestagsdebatte zu Afghanistan.
Die Motive der Rednerinnen und Redner in der Afghanistan-Debatte im Bundestag werden schnell deutlich. Die Bundeskanzlerin will die Verantwortung ihrer Regierung dafür relativieren, dass die Rettung von deutschen Staatsbürgern aus Kabul so hektisch verläuft und das aller Voraussicht nach Tausende Ortskräfte nicht werden in Sicherheit gebracht werden können. Fast alle anderen machen Wahlkampf.
Geradezu entwaffnend ist die Offenheit des Verteidigungspolitikers Reinhard Brandl. Nach einem Wortwechsel mit Jan Korte, dem parlamentarischen Geschäftsführer der Linksfraktion, sagt der CSU-Abgeordnete, er werde heute zurück in seinen Wahlkreis fahren und Wahlkampf machen. "Und ich werde dafür kämpfen, dass Rot-Rot-Grün nicht möglich wird."
Andere sind nicht weniger direkt, aber etwas subtiler. FDP-Chef Christian Lindner etwa, der dritte Redner nach Angela Merkel, lobt den Kanzlerkandidaten der Union und attackiert SPD und Grüne. Ausdrücklich erwähnt Lindner den "sinnvollen Vorschlag" eines nationalen Sicherheitsrates, den "der CDU-Vorsitzende Armin Laschet" bereits im Mai in die Diskussion eingebracht habe - und kritisiert die SPD dafür, die Anschaffung bewaffneter Drohnen für die Bundeswehr zu blockieren. Ohnehin sei es an der Zeit, so Lindner, "dass SPD und Grüne ihr bisweilen gestörtes Verhältnis zur Bundeswehr prüfen". Da die Linke dem Mandat für den Rettungseinsatz in Kabul nicht zustimmen wolle, wäre mit ihr "stabiles Regieren nicht möglich". Dann fordert er die Kanzlerkandidaten von SPD und Grünen auf, einer rot-rot-grünen Koalition abzuschwören: "Wir erwarten von Herrn Scholz und von Frau Baerbock, dass sie sich dieser Feststellung anschließen, dass mit einer Linkspartei kein Staat zu machen ist, die in einer solchen Situation unsere Soldatinnen und Soldaten in Rechtsunsicherheit lässt."
Kurz zuvor hatte Lindner noch erwähnt, dass die Grünen wie auch die FDP Anträge gestellt hätten, die "in Details unterschiedlich", im Ziel jedoch einig gewesen seien, die Aufnahme von Ortskräften zu erleichtern. Er übt scharfe Kritik an Merkel, sagt jedoch, die "Fäden der Verantwortung" liefen im vom SPD-Politiker Heiko Maas geführten Auswärtigen Amt zusammen.
"Das werde ich Ihnen nicht vergessen"
Auch SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich lässt sich die Gelegenheit für einen Wahlkampfauftritt im Bundestag nicht entgehen. Wie alle Redner dankt Fraktionschef Rolf Mützenich den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr für ihren Einsatz. Den Grünen wirft er Heuchelei vor, weil sie Abschiebungen nach Afghanistan im Bund abgelehnt und in grün-mitregierten Ländern unterstützt hätten. Da klingt Verbitterung durch: "Das werde ich Ihnen nicht vergessen." Erst vor einigen Tagen hatte Baerbock Maas dafür kritisiert, dass das Auswärtige Amt den Lagebericht zu Afghanistan nicht früher angepasst habe.
Dies wiederholt die Grünen-Chefin auch jetzt: Der Lagebericht sei nicht angepasst worden, "weil Sie weiter nach Afghanistan abschieben wollten, das gehört zur Ehrlichkeit dazu". Die Rettung dieser Menschen früh genug einzuleiten, sei der Bundesregierung nicht wichtig genug gewesen, sagt Baerbock und erwähnt ausdrücklich auch das Kanzleramt und - der Wahlkampf lässt grüßen - den Vizekanzler. Innenpolitische Motive - die Abwehr von Flüchtlingen - seien höher gewichtet worden "als unsere außenpolitische Verantwortung".
Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch lobt die Grünen dafür, wie seine eigene Fraktion die Bundesregierung im Mai aufgefordert zu haben, Ortskräfte aus Afghanistan zu evakuieren. "Sie alle hätten gerettet werden können", wenn die Bundesregierung die Lage richtig eingeschätzt hätte, so Bartsch. Erst evakuieren, dann abziehen, das sei die logische Reihenfolge. Aber Bartsch betont auch, dass die Kanzlerin diesen Krieg "von SPD und Grünen geerbt" habe.
Merkel sah die Bundesregierung im Dilemma
AfD-Fraktionschef Alexander Gauland unterstellt der Bundesregierung in seiner Rede, diese habe Afghanistan "mit Gender-Mainstreaming therapieren" wollen. "Um Geschlechtergerechtigkeit in die muslimische Welt zu tragen, mussten deutsche Männer ihr Leben lassen." Sein Fraktionskollege Armin Paul Hampel lehnt den laufenden Einsatz der Bundeswehr mit der Begründung ab, "das öffnet die Schleusen", und auch der AfD-Abgeordnete Rüdiger Lucassen, der den Antrag unterstützt, behauptet, dieser trage "den Kern einer neuen Flüchtlingswelle nach Deutschland und Europa".
Und Merkel? Die Kanzlerin hatte zu Beginn der Debatte viel Zeit darauf verwendet, die Arbeit ihrer Regierung zu rechtfertigen. Eine Entschuldigung für das späte Anlaufen der Evakuierungsaktion von Deutschen und Ortskräften gibt es von ihr nicht. Sie erinnert an die 59 deutschen Soldatinnen und Soldaten, die in Afghanistan in den vergangenen zwanzig Jahren ums Leben kamen, und sie erwähnt einen Bundespolizisten, den sie kannte, weil er zu ihrem Schutz eingesetzt worden war. Er ging nach Afghanistan, wo er bei einem Anschlag ums Leben kam. Sie habe den Kontakt zu seiner Familie "seither nicht verloren", sagt die Kanzlerin, vermutlich um zu zeigen, dass ihr absolut klar ist, worum es hier geht.
Doch im Zentrum der Rede steht die Relativierung der Vorwürfe. Sie könne die Frage verstehen, aber "das Bild ist differenziert". Mit Blick auf die afghanischen Mitarbeiter in Entwicklungshilfeprojekten habe es das Dilemma gegeben, dass Deutschland diese zwar schützen, man die Entwicklungshilfe aber auch habe fortsetzen wollen. "Dazu sind wir auf unsere Mitarbeiter vor Ort angewiesen."
"Beide Sichtweisen haben ihre Berechtigung"
Diesen Punkt erläutert Merkel sehr ausführlich: "Stellen wir uns einen Moment vor, Deutschland hätte im Frühjahr nicht nur mit dem Abzug der Bundeswehr begonnen, sondern gleich auch mit dem Abzug von Mitarbeitern und Ortskräften deutscher Hilfsorganisationen. Manche hätten dies sicher als vorausschauende Vorsicht gewürdigt, andere dagegen als eine Haltung abgelehnt, mit der die Menschen in Afghanistan im Stich gelassen und ihrem Schicksal überlassen werden. Beide Sichtweisen haben ihre Berechtigung. Aber bitte gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang eine etwas zugespitzte persönliche Anmerkung: Hinterher, im Nachhinein präzise Analysen und Bewertungen zu machen, das ist nicht wirklich kompliziert. Hinterher, im Nachhinein alles genau zu wissen und exakt vorherzusehen, das ist relativ mühelos. Wir, die internationale Staatengemeinschaft, wir konnten aber nicht hinterher, im Nachhinein entscheiden, sondern mussten es in der damaligen Situation tun, in der es sehr gute Gründe dafür gab, den Menschen in Afghanistan nach dem Abzug der Truppen wenigstens in der Entwicklungszusammenarbeit weiter zur Seite zu stehen - ganz konkrete Basishilfe von Geburtsstationen bis zur Wasser- und Stromversorgung zu leisten."
Merkel betont, es sei "bitter", dass die Bundesregierung nun ein Mandat in den Bundestag einbringen müsse, um die Evakuierungsaktionen absegnen zu lassen - dreimal verwendet sie dieses Wort, "bitter". Dass das zwanzigjährige Engagement in Afghanistan ein Fehlschlag gewesen wäre, weist die Kanzlerin zurück. Dann stellt sie eine ganze Reihe von Fragen, die nun zu beantworten seien, sagt aber zugleich, es wäre "vermessen", schon heute abschließende Antworten darauf zu geben.
Auf diese Fragen gehen sowohl Lindner als auch Baerbock ein. Diese Fragen, die Merkel aufgeworfen habe, seien ihr von der FDP in den vergangenen Jahren regelmäßig gestellt worden, sagt der FDP-Chef. Die Grünen-Vorsitzende sagt, sie wundere sich, dass Merkel nach sechzehn Jahren Amtszeit, "sechzehn von zwanzig Jahren", nun so viele Fragen habe, wo die doch immer wieder im Bundestag diskutiert worden seien.
Trotz der kontroversen Debatte erhält das nachträgliche Mandat für den Evakuierungseinsatz eine breite Mehrheit. Nur neun Abgeordnete stimmen dagegen, 90 enthalten sich, dafür votieren 539. Längstens soll der Einsatz bis Montag dauern. Da die US-Truppen vermutlich schon vorher abziehen, dürfte allerdings auch die Rettung von Menschen aus Kabul durch die Bundeswehr schon deutlich früher beendet werden - vermutlich schon am Freitag.
Quelle: ntv.de