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Miserable Ergebnisse für die AKP Warum die türkischen Wähler Erdogan so hart abstrafen

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Ein türkischer Politikwissenschaftler bezeichnet den Ausgang der Wahl als Erdoğans "schwerste Wahlniederlage".

Ein türkischer Politikwissenschaftler bezeichnet den Ausgang der Wahl als Erdoğans "schwerste Wahlniederlage".

(Foto: AP)

Ein knappes Jahr nach seinem Sieg bei der Präsidentenwahl will der türkische Präsident Erdoğan Istanbul, Ankara und andere Städte für die AKP zurückerobern. Doch seine Kandidaten fallen krachend durch. Bei der Ursachensuche sind sich die Experten einig.

Bevor am Sonntag in der Türkei die Wahllokale für die Kommunalwahlen öffneten, fiel immer wieder dieser Satz: Der Urnengang ist ein Stimmungstest für Präsident Recep Tayyip Erdoğan und seine islamisch-konservative Regierungspartei AKP. Erdoğan wollte vor allem in den zwei größten Städten des Landes, Istanbul und Ankara, wieder den Bürgermeister stellen und die sozialdemokratische CHP in die Schranken weisen.

Nach Auszählung von mehr als 90 Prozent der abgegebenen Stimmen steht fest: Der Stimmungstest ist für Erdoğan nicht gut ausgegangen. Die Ergebnisse für die AKP sind so schlecht wie seit 20 Jahren nicht mehr. In Istanbul gingen 26 der 39 Stadtbezirke an die CHP, in Ankara 16 von 25 Bezirken. Auch in Izmir, Adana und Antalya siegten Bürgermeister der CHP. Während diese Siege keine Überraschung waren, konnte die Opposition auch mehrere Städte und Provinzen für sich gewinnen, die bisher fest in der Hand der AKP waren. Darunter ist die als erzkonservativ geltende Stadt Bursa und das 2023 vom Erdbeben stark getroffene Adiyaman. Landesweit erhielt die CHP 37 Prozent der Stimmen, verglichen mit 36 Prozent für die Partei des Präsidenten.

Zehn Monate nach Erdoğans Wiederwahl als Präsident sind das keine guten Nachrichten für ihn. Erdoğan räumte die Niederlage in einer Rede vom Balkon des Präsidentenpalastes ein und sagte, das Volk habe eine "Botschaft" übermittelt, die seine Partei durch "mutige" Selbstkritik "analysieren" werde. Die Ursachen für das eindeutige Votum sehen Experten vor allem in der hohen Inflation und der Wirtschaftspolitik. Das Ergebnis "kann nur durch die Wirtschaft erklärt werden", schrieb etwa der Journalist Abdulkadir Selvi in der regierungsnahen Zeitung "Hürriyet". Es wehe "ein neuer Wind" durch die Türkei.

Zuletzt lag die Inflationsrate bei mehr als 67 Prozent. Zwischenzeitlich war sie sogar bis auf 85 Prozent geklettert. Die Arbeitslosenzahl verharrt bei etwa zehn Prozent, die Lohnentwicklung kann mit den steigenden Lebenshaltungskosten kaum mithalten. Viele Rentnerinnen und Rentner müssen auch jenseits der 70 wieder arbeiten, um überhaupt über die Runden zu kommen. Armut wird für viele zur realen Gefahr, selbst von zu wenigen Mahlzeiten am Tag berichten inländische Medien. Sogar von Hunger ist die Rede.

Vorrang für die Wirtschaft

Nach Ansicht des Direktors der in Istanbul ansässigen Denkfabrik Edam, Sinan Ülgen, wollten die Wähler die AKP für die schlechte Wirtschaftslage bestrafen. Die in die Höhe geschnellte Inflation habe dazu geführt, dass sich viele türkische Haushalte grundlegende Güter nicht mehr leisten können, betonte er. AKP-Anhänger seien deshalb zu Hause geblieben oder hätten andere Parteien gewählt.

Ülgen zufolge kam es "zu parteiübergreifenden Verschiebungen bei der Abstimmung, was bei den Nationalratswahlen aufgrund stärkerer ideologischer Bindungen nicht vorkam". Aber diesmal habe die Wirtschaft Vorrang vor der Identität gehabt. "Die Wirtschaft war der entscheidende Faktor", sagt auch Hakan Akbas, ein leitender Berater der Albright Stonebridge Group.

Im Vergleich zu früheren Wahlen war zudem die Wahlbeteiligung relativ niedrig. Im vergangenen Jahr hatte sie noch bei 87 Prozent gelegen, jetzt waren es nach Angaben der staatlichen Agentur Anadolu nur noch 76 Prozent. Außerdem verlor die AKP auch Stimmen an die erst 2018 gegründete islamistische Neue Wohlfahrtspartei. Sie hatte im Gaza-Konflikt eine noch härtere Haltung gegenüber Israel als Erdoğan eingenommen.

Hoffnungsträger Imamoglu

Die säkulare regierungskritische Tageszeitung "Sözcü" verkündete nach Bekanntwerden der ersten Ergebnisse eine "Revolution an der Wahlurne", während die große Oppositionszeitung "Cumhuriyet" von einem "historischen Sieg" sprach. Der Politikwissenschaftler Mert Arslanalp von der Bogazici-Universität in Istanbul bezeichnete den Ausgang als Erdoğans "schwerste Wahlniederlage" seit dem Aufstieg des früheren Ministerpräsidenten vor mehr als 20 Jahren. Dem alten und neuen Bürgermeister von Istanbul, dem CHP-Politiker Imamoglu, sei es gelungen, über mehrere Gruppen der tief gespaltenen Gesellschaft hinweg Wähler anzusprechen. "Das macht ihn auf nationaler Ebene zum stärksten Rivalen von Erdoğans Herrschaft."

Eine Kandidatur Imamoglus bei der Präsidentschaftswahl 2028 wird damit immer wahrscheinlicher. "Wie werden ein Rennen zwischen Imamoglu und Yavas (...) erleben", kommentierte "Hürriyet"-Journalist Selvi. "Imamoglu ist Erdoğans Gegner bei der nächsten nationalen Wahl", schrieb auch Soner Cagaptay vom Washington Institute bei X. Der Bürgermeister von Istanbul habe "die Chance, Präsident der Türkei zu werden".

Allerdings könnte sich Erdoğan von den Ergebnissen gedrängt fühlen, die von ihm gewollten Verfassungsänderungen bald und um jeden Preis herbeizuführen. Die neue Verfassung soll seine konservativen Werte widerspiegeln, Familienwerte in den Vordergrund stellen und es ihm ermöglichen, über das Jahr 2028 hinaus zu regieren.

Quelle: ntv.de, sba

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