
Odessa bereitet sich auf einen Ansturm russischer Truppen vor.
(Foto: REUTERS)
Normalerweise unterrichtet Karina Beigelzimer Deutsch an einer Schule in Odessa. Hier berichtet die 46-Jährige über ihre Ängste und ihren Alltag, von traumatisierten Schülern und Freunden, die verstummen angesichts der Tragödie, die ihre Heimat erleidet. Odessa wurde von der russischen Armee bislang nicht eingenommen, die Kämpfe in der Region konzentrieren sich bislang auf das nahegelegene Mykolajiw.
Die gute Nachricht ist, dass ich heute Nacht zum ersten Mal seit zehn Tagen geschlafen habe. Es gab keinen Luftalarm. Ich bin unglaublich erschöpft. Als ich am 24. Februar von einer Explosion aus dem Schlaf gerissen wurde, wusste ich sofort: Der Krieg ist ausgebrochen. Ich habe dann im Internet nachgesehen und dort die Bestätigung gefunden. Seit diesem Tag gibt es keinen Moment Ruhe. Wir alle leben in ständiger Ungewissheit. Jede Nacht heulen die Sirenen für mindestens zwei Stunden. Vor ein paar Tagen sogar von 2.00 bis 7.00 Uhr morgens. Das zehrt an den Nerven.
Die ersten Kriegstage waren besonders schlimm. Ich war wahnsinnig verängstigt und nervös. Ich habe aber auch schnell begriffen, dass ich mich so selber verrückt machen würde. Seitdem versuche ich, immer beschäftigt zu sein. Und zum Glück gibt es immer etwas zu tun.
Ich versuche, so gut es, geht den Tagesablauf vor Kriegsbeginn beizubehalten. Das heißt, ich halte von 9.00 Uhr bis 13.30 Uhr Unterricht, vorausgesetzt es gibt keinen Luftalarm. Wenn der kommt, muss die Stunde sofort abgebrochen werden. Ich hab eine 7., eine 10. und zwei 11. Klassen. Wir haben jetzt nur noch Online-Unterricht, was letztlich auch für die Schüler gut ist, die Odessa verlassen haben und jetzt im Westen der Ukraine oder im Ausland sind. Zahlreiche von meinen Schülern sind in Deutschland und ein Teil nimmt auch schon an dem dortigen Unterricht teil. Vor allem die aus der Jahrgangsstufe 11, in der Ukraine ist das der Abiturjahrgang. Wenn ich weiß, dass sie nach Deutschland wollen, nutze ich meine Kontakte, damit sie eine Bleibe und eine Schule haben, die sie aufnimmt.
Ein Video, um das Trauma zu verarbeiten
Die Schüler, die weiter in Odessa sind, leiden sehr unter der jetzigen Lage. Einer hat mir unlängst gesagt: "Man hat uns die Kindheit gestohlen". Ein anderer sagte: "Ich weiß gar nicht mehr, was ein süßer Traum ist". Sie sind genauso wie wir Erwachsene ausgelaugt. Sie fürchten sich vor den Sirenen in der Nacht, die sie aus dem Schlaf reißen. Ich habe ihnen vorgeschlagen, ein Video über diese Zeit zu drehen, und sie aufgefordert, über Ideen nachzudenken, wie es sein soll. Auch auf Ukrainisch, denn die aus der 7. beherrschen die deutsche Sprache noch nicht so gut. Wir würden die Texte dann zusammen übersetzen.
Neben der Schule versuche ich, überall wo nötig zu helfen. Ich suche nach Kontakten und Aufnahmemöglichkeiten, vor allem im Ausland.
Jetzt, wo die Tage länger werden, beginnt die Ausgangssperre um 20.00 Uhr statt um 19.00 Uhr und endet um 6.00 Uhr morgens. Untertags gehe ich auch hinaus, bleibe aber immer in unmittelbarer Nähe meiner Wohnung. Heute zum Beispiel hat es, als ich draußen war, einen Luftalarm gegeben und alle Leute haben versucht, sich so schnell wie möglich in Sicherheit zu bringen. Das Gefühl, das einem dabei überkommt, kann man nicht beschreiben.
Wenn man sich bei einem Luftalarm gerade in einem Geschäft befindet, muss man dieses sofort verlassen. Viele Leute beschweren sich deswegen. Ich verstehe auch nicht, warum wir raus müssen. Vielleicht, weil das Personal in den Keller muss und das Geschäft unbewacht bleibt.
Wenn den Menschen das Geld ausgeht, droht eine humanitäre Katastrophe
Was die Lebensmittelversorgung betrifft, haben wir noch kein wirkliches Problem. Ja, das eine oder andere Produkt fehlt in den Regalen, aber die Grundversorgung besteht weiter. Anders ist es bei den Arzneimitteln, die wir ja zum Großteil importieren, die sind mittlerweile knapp.
Ein weiteres Problem ist die von Tag zu Tag steigende Arbeitslosigkeit. Die Fachgeschäfte und ein Großteil der Lokale sind geschlossen. Das heißt, dass viele keine Arbeit mehr haben. Zwar garantiert der Staat eine einmalige Unterstützung, doch es gibt auch viele Schwarzarbeiter [die nun arbeitslos sind], und die gehen leer aus. Wenn auch die, die finanzielle Hilfe bekommen oder Ersparnisse haben, alles aufgebraucht haben, droht uns eine humanitäre Katastrophe.
Ich kann mich noch erinnern, wie mein Großvater vom Zweiten Weltkrieg erzählte. Als Kind war ich sehr stolz auf ihn. Am 9. Mai, dem Tag des Sieges, feierten wir auf den Straßen und schenkten uns Blumen. Gleichzeitig fragte ich mich aber, wie es hatte sein können, dass sich die Menschen noch im 20. Jahrhundert bekriegten, denn mein Großvater erzählte auch von den Verletzten, den Toten, der Gewalt und dem unendlichen Leid. Nie, nie im Leben hätte ich mir denken können, dass ich im 21. Jahrhundert, dasselbe erleben würde. Man kann noch so gebildet sein und noch so tiefe historische Kenntnisse haben - was Krieg ist, weiß nur derjenige, der ihn selbst erlebt.

Karina Beigelzimer ist Deutschlehrerin an einer Schule mit erweitertem Deutschunterricht in Odessa.
(Foto: privat)
Viele meiner Freunde sind geflüchtet, die die noch hier, sind reagieren unterschiedlich. Die einen sind traumatisiert, verstummt. Andere wiederum haben das Bedürfnis, ihre Angst mit jemandem zu teilen.
Die Angst, dass sich der Krieg in die Länge zieht
Im Moment habe ich nicht die Absicht, aus Odessa zu flüchten, obwohl mir von Freunden aus aller Welt angeboten wurde, mich aufzunehmen. Nur, warum soll ich weggehen? Das hier ist meine Heimat. Wer von hier weg muss, und zwar schleunigst, ist unser Feind. Ich will von Putin nicht 'beschützt' werden. Meine Eltern sind Ukrainer, meine Mutter ist russisch-, mein Vater ukrainischsprachig aufgewachsen. Ich spreche beide Sprachen und drei weitere. Und apropos Eltern: Meine sind schon alt, mein Vater ist zwei Tage nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geboren, meine Mutter ist nur wenig jünger. Für sie beide wäre eine Flucht aus Odessa sehr schmerzhaft. Natürlich habe ich einen Plan B, sollte es wirklich gefährlich werden. Im Moment warten wir aber ab.
Ich stehe so viele Ängste durch, dass ich sie gar nicht mehr benennen kann. Meine größte Angst ist jedoch, dass die Russen weder gewinnen noch verlieren und deswegen nicht von uns lassen.
Quelle: ntv.de