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Operation könnte ein Jahr dauern Welche Taktik steckt hinter der israelischen Bodenoffensive?

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Israelische Panzer an der Grenze zum Gazastreifen: die Raketenangriffe hinterlassen ein Bild der Zerstörung.

Israelische Panzer an der Grenze zum Gazastreifen: die Raketenangriffe hinterlassen ein Bild der Zerstörung.

(Foto: picture alliance/dpa/AP)

Nur auf kleiner Fläche und mit wenigen Panzern dringen israelische Soldaten am vergangenen Wochenende in den Gazastreifen ein. Für den begrenzten Einmarsch gibt es mehrere Theorien. Hinweise deuten auf eine länger angelegte Operation hin.

Als Israels Panzer in der Nacht von Freitag auf Samstag in den Gazastreifen rollten, gingen viele von der seit langem groß angekündigten Invasion aus. Tatsächlich aber hielt sich der Einsatz in Grenzen. Das israelische Militär hat zwar laut eigener Aussage den Gazastreifen mit "bisher nie gesehene Feuerkraft" bombardiert, was einen Zusammenbruch der Netz- und Internetverbindung zur Folge hatte. Gaza glich einer Blackbox, aus der keinerlei Informationen nach draußen drangen. Lediglich Live-Streams von BBC und anderen Medien hielten Bilder und Videos von Raketeneinschlägen fest, die den schwarzen Himmel im Minutentakt feuerrot färbten. Von einer groß angelegten Bodenoffensive auf großer Fläche kann aber kaum die Rede sein.

Den scheinbar begrenzten Einmarsch hatte Israels Premierminister Benjamin Netanjahu als "zweite Phase" des Krieges mit der Hamas bezeichnet. Dabei soll es vor allem darum gegangen sein, die Feuerkraft gegenüber der Hamas zu maximieren und die eigenen Verluste so niedrig wie möglich zu halten, sagten ehemalige israelische Beamte der "Financial Times" (FT). Gleichzeitig versuche Israel, andere Gegner wie den Iran oder die Hisbollah nicht in den Krieg hineinzuziehen.

In ihrer nächtlichen Aktion sind die ersten Einfälle der israelischen Streitkräfte im Norden und der Mitte des Gazastreifens erfolgt: in der Nähe von Beit Hanoun im Norden und bei Bureij in der Mitte des Gazastreifens. Ein in den sozialen Medien verbreitetes Video soll einen israelischen Vorstoß bis zur Salaheddin-Straße, der Hauptstraße, die durch den Gazastreifen führt, zeigen. In dem aus einem Auto heraus gefilmten Video sieht man in der Entfernung, wie ein israelischer Panzer auf ein heranfahrendes Auto schießt. Da die Hamas und die Palästinenser nicht über Panzer verfügen, muss es sich um einen israelischen Panzer handeln.

Operation könnte bis zu einem Jahr dauern

Einige Militärexperten gehen laut der "FT" davon aus, dass dieser Ansatz darauf hindeute, dass Israel versuchen könnte, Gaza-Stadt schrittweise zu umzingeln - von Norden und Süden aus. Schon länger behaupten israelische Beamte, dass die Stadt die Basis für einen Großteil der militärischen Infrastruktur der Hamas sei. Brigadegeneral Gilad Keinan von der israelischen Luftwaffe sagte am Samstag, rund einhundert Kampfflugzeuge hätten in der Nacht Hunderte von Geschossen abgefeuert und Hunderte von Hamas-Zielen zerstört. "Das Ziel ist klar: Alles zu zerstören, was mit Hamas zu tun hat."

Aber auch auf taktischer Ebene gibt es Gründe für den Angriff auf kleiner Fläche. Die Bodentruppen konnten bei ihrem Vormarsch so leichter Luftunterstützung erhalten - eine wichtige Deckung in Teilen des nördlichen Gazastreifens, wo die Hamas jahrelang Verteidigungsmaßnahmen vorbereitet hat. "Wir gehen kein Risiko ein", sagte Amir Avivi, ehemaliger stellvertretender Kommandeur der Gaza-Division des israelischen Militärs gegenüber der "FT". "Wenn unsere Soldaten manövrieren, tun wir das mit massiver Artillerie, wobei 50 Flugzeuge über uns hinweg alles zerstören, was sich bewegt."

Ein weiterer Grund für die Entsendung weniger Truppen in den Gazastreifen könnte auch sein, dass Israel Truppen an vier Fronten stationieren muss. Die Angriffe der libanesischen Hisbollah-Miliz an der Grenze zum Südlibanon bindet Kräfte, die die israelische Armee nicht im Gazastreifen einsetzen kann. Hinter den verschiedenen Bedrohungsszenarien an mehreren Fronten stecke das sogenannte "Prinzip der Übersättigung", sagt der österreichische Oberst Markus Reisner ntv.de. Man könne klar erkennen, dass die lokalen Terrororganisationen Hamas und Hisbollah mit dem Iran im Hintergrund versuchen, sowohl Israel, "als auch seine Verbündeten an mehreren Fronten zu binden, damit sie nicht in der Lage sind, zentral alle ihre Kräfte im Gazastreifen zu bündeln".

Der Wissenschaftler Yaakov Amidror vom Jewish Institute for National Security of America und ehemaliger nationaler Sicherheitsberater, geht davon aus, dass der anfängliche begrenzte Einmarsch ein Zeichen dafür sei, dass das von Netanjahu erklärte Ziel, die Hamas "vollständig zu zerstören", nicht schnell abgeschlossen werden kann. "Das Ziel ist kein taktisches Ziel, das wir morgen erreichen werden", sagte er. Er rechne laut dem Bericht mit einer Dauer zwischen sechs Monaten und einem Jahr.

"Wer sagt, dass es eine große Bodenoffensive wird?"

Zu ersten Kämpfen zwischen der Hamas und Israelis soll es bereits am Sonntag beim Grenzübergang Erez gekommen sein. Hamas-Terroristen sollen hier aus einem Tunnel in der Nähe aufgetaucht sind. Trotzdem sei der Widerstand, auf den israelische Truppen gestoßen seien, nicht groß gewesen, sagte der Militärkorrespondent und Autor Amos Harel, laut "FT".

Israelischen Streitkräfte seien drei bis vier Kilometer in den Gazastreifen vorgedrungen, aber noch nicht in städtische Kämpfe verwickelt gewesen. "Die Logik scheint darin zu bestehen, Druck auszuüben, Hamas-Kämpfer aus ihren Tunneln zu zwingen und sie dann anzugreifen", so Harel. "Das Einzige, was schlimmer ist als der Kampf in städtischem Gelände, ist der Kampf in den Trümmern des städtischen Geländes", sagt Eyal Hulata, der bis Anfang des Jahres Vorsitzender des Nationalen Sicherheitsrates Israels war, der "FT". "Es gibt so viele Orte, an denen sie sich verstecken und Hinterhalte verüben können".

Unklar sei trotzdem, warum die Hamas nicht mehr Panzerabwehrraketen auf die Fahrzeuge der Israelis abgefeuert habe. Über zukünftige Bodenoffensiven sagt die Reaktion der Hamas aber noch nichts aus. Zu welch falscher Einschätzung der israelische Geheimdienst über die Fähigkeiten und Absichten der Hamas gekommen ist, konnte man am 7. Oktober sehen.

Noch lässt sich das weitere Vorgehen der israelischen Streitkräfte im Gazastreifen anhand des ersten Vorstoßes nicht ablesen. Der Sprecher der israelischen Armee, Arye Sharuz Shalicar, gab aber bereits vor dem Start der Offensive am Freitag gegenüber ntv einen Hinweis: "Wer sagt, dass es eine große Bodenoffensive wird?" Nadelstiche könnten auch Ergebnisse bringen.

Quelle: ntv.de

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