Politik

Experte zum Kriegsverlauf "Wenn Putin eskalieren könnte, hätte er es längst getan"

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Nahe Bachmut: Ukrainische Soldaten schießen mit einer Haubitze auf russische Stellungen.

Nahe Bachmut: Ukrainische Soldaten schießen mit einer Haubitze auf russische Stellungen.

(Foto: IMAGO/ZUMA Wire)

Wochenlang reiben sich die russische Truppen auf, ohne das unbedeutende Bachmut wirklich einzunehmen, und auch der Rest ihrer Winteroffensive kommt nicht vorwärts. "Es gibt keine zusätzlichen Ressourcen", sagt Sicherheitsexperte Nico Lange, Senior Fellow der Zeitenwende-Initiative der Münchner Sicherheitskonferenz. Im Gespräch mit ntv.de erklärt er, warum die "unendlichen Kräfte" Russlands nur ein Mythos seien.

ntv.de: Seit Wochen tobt ein fast statischer Kampf um Bachmut, aber kommt in der Gesamtsicht Russland doch Stück für Stück vorwärts?

Nico Lange: Russland, vor allem die Wagner-Gruppe, hat jetzt Monate gebraucht, um von der östlichen Seite her bis ins Stadtzentrum vorzudringen, und in der Nacht zu Montag eine russische Flagge auf dem zentralen Verwaltungsgebäude gehisst. Gleichzeitig heißt das, etwa ein Drittel der Stadt im westlichen Teil wird weiterhin von der Ukraine kontrolliert. Militärisch bedeutet eine Flagge auf dem Rathaus nicht, dass man die ganze Stadt kontrolliert. Wenn die russischen Truppen aber Monate gebraucht haben, um bis zum Ortszentrum zu kommen, dann ist zu vermuten, dass es auch noch lange dauern könnte, bis sie den Rest der Stadt erobert haben, wenn sie es überhaupt schaffen.

Von Anfang an war ein Argument für den Widerstand der Ukraine dort, dass die Verluste der russischen Truppen, die auf Stadtgebiet nicht so kampfkräftig sind, im Verhältnis deutlich höher liegen sollen - bei etwa 7 zu 1. Gilt das noch immer?

Zu den Verlustraten beider Seiten in den letzten Tagen habe ich nicht genügend Daten, die hat, glaube ich, auch niemand wirklich. Was ich aber sehe: Die Kosten Russlands für die Eroberung einer so kleinen Stadt wie Bachmut werden nach oben getrieben, und die russische Fähigkeit zu weiteren Angriffen scheint sehr vermindert zu sein.

Nico Lange ist Senior Fellow der Zeitenwende-Initiative der Münchner Sicherheitskonferenz und war Leiter des Leitungsstabs im Verteidigungsministerium. Lange hat in Russland und in der Ukraine gelebt.

Nico Lange ist Senior Fellow der Zeitenwende-Initiative der Münchner Sicherheitskonferenz und war Leiter des Leitungsstabs im Verteidigungsministerium. Lange hat in Russland und in der Ukraine gelebt.

(Foto: Foto: Tobias Koch (www.tobiaskoch.net))

Dann lohnen sich die Verluste unterm Strich weiterhin?

Dass Russland es jetzt schon seit Monaten nicht schafft, die letzten Kilometer der Umfassung hinter Bachmut zu schließen, ist ein Zeichen für die Schwäche der russischen Seite. Es sieht so aus, als käme ihr Angriff tatsächlich bei Bachmut zum Stehen. Aus militärischer Perspektive sehe ich aber auf beiden Seiten kritisch, wie stark der Ort Bachmut politisch aufgeladen ist. Ich kann das nicht abschließend beurteilen, aber ich fände es schwierig, wenn es auch auf ukrainischer Seite so etwas wie eine politische Übersteuerung der militärischen Notwendigkeit gibt. Es wäre besser, sich nach den rein militärischen Gesichtspunkten zu richten.

Auch in Awdijiwka verteidigen die ukrainischen Streitkräfte bei großen Verlusten.

Für Awdijiwka, etwas weiter südlich bei Donezk gelegen, gilt dasselbe. Auch diese Stadt ist mittlerweile von drei Seiten durch Russland in Bedrängnis geraten. Letztlich können die Kommandeure vor Ort am besten über das weitere Vorgehen entscheiden. Die Ukraine sollte zumindest nicht Gefahr laufen, jetzt für die Verteidigung dieser Städte Ressourcen zu nutzen, die sie eigentlich für künftige Gegenangriffe benötigt.

Für diese Gegenangriffe benötigt sie dringend auch westliche Panzer, die aber nur peu à peu geliefert werden. "Boiling the frog" heißt die Strategie des Westens, Menge und Qualität seiner Unterstützung nur langsam zu steigern, damit Putin nicht eskaliert. Klingt sinnvoll. Wie groß ist aber die Gefahr, dass der Ukraine die gut ausgebildeten Soldaten ausgehen, bis sie die nötigen Waffen in ausreichender Zahl hat?

Ich halte von "Boiling the frog" überhaupt nichts, ich sage auch gleich, warum. Vorher erkläre ich aber gern, warum sich aus meiner Perspektive Ihre Frage so nicht stellt. Die Situation ist im Großen und Ganzen so zu beschreiben: Russland hat Personalprobleme, aber noch sehr viel Technik, wenn auch teilweise veraltete. Der Ukraine fehlen Technik und Ausrüstung, personell hat sie aber sehr wohl Reserven. Nur weil Russland größer ist und mehr Einwohner hat, sollte man nicht automatisch darauf schließen, dass Moskau mehr Soldaten zur Verfügung stehen und Kiew weniger. Das stimmt so nicht.

"Boiling the frog" finden Sie aber trotzdem schlecht?

Bei "Boiling the Frog" bin ich mir gar nicht sicher: Ist das wirklich eine Strategie oder hat man das im Nachhinein ins eigene Verhalten hineininterpretiert? Ich erkenne keinen Sinn darin, immer wieder darauf zu warten, dass Russland etwas tut und den russischen Streitkräften immer wieder Gelegenheit zur Erholung zu geben, um dann wieder ein bisschen zu helfen.

Der Westen will Putin nicht so deutlich vor Augen führen, wie stark er die Ukraine unterstützt.

Wesentliche westliche Partner haben jetzt schon über ein Jahr immer nur zögerlich auf das reagiert, was Russland tut und den russischen Truppen immer wieder die Möglichkeit gegeben, sich neu aufzustellen. Eine neue Phase des Krieges wäre es, wenn man einfach Russland keine Luft mehr dafür lässt, sondern ganz massiv hilft, so dass die Ukraine die Front durchbrechen und die Angreifer aus dem Land vertreiben kann. Aus militärischer Perspektive kann ich mir nur diese Auffassung gestatten: Es wäre sinnvoll, jetzt der Ukraine so entschieden zu helfen, dass sie in die Lage kommt, die Initiative in diesem Krieg zu gewinnen und dann auch zu behalten. Militärisch halte ich das für möglich, aber dann muss man diesen "Boiling the frog"-Ansatz ändern.

Braucht es Ihrer Meinung nach gar keine westliche Strategie, die den Ball etwas flach hält? Besteht das Eskalationsrisiko, das man damit eindämmen will, aus Ihrer Sicht nicht?

Ich kann nur feststellen: Alle Hypothesen zu Zeitverläufen und Eskalationsrisiken seit dem 24. Februar 2022 haben sich als falsch herausgestellt. Zuerst ging man davon aus, dass der Krieg in einigen Wochen vorbei sei. Dann hat man gedacht: Im Sommer 2022 gibt es vielleicht einen Kompromiss. Dann kam langsam die Erkenntnis: Oh, es dauert doch lange, wir müssen also auch industriell nachlegen. Man sollte jetzt nicht den Fehler machen, wieder auf Grundlage von falschen Hypothesen Entscheidungen zu treffen. Man sollte daraus lernen, wenn die eigenen Hypothesen nicht stimmen.

Lässt sich von hier aus seriös einschätzen, wie Russland aufgestellt und wozu es bereit ist?

Was die Eskalationsrisiken betrifft, sollten wir uns nüchtern die Realitäten ansehen: Viele haben gesagt: Wenn die Krim angegriffen wird, dann eskaliert der Krieg. Die Krim ist angegriffen worden, schon mehrfach. Was passiert ist: Russland hat seine U-Boote aus dem Schwarzen Meer zurückgezogen - offenbar aus Angst davor, dass auch die angegriffen werden könnten. Es gibt keine weiteren Eskalationen und aus militärischer Perspektive kann ich nur fragen: Was soll denn diese Eskalation sein?

Es gibt keine zweite russische Armee, die irgendwo in Reserve steht, falls irgendetwas Schlimmes passiert. Es gibt auch keine zusätzlichen militärischen Ressourcen. Wir sollten uns von diesem Mythos verabschieden, dass der Kreml noch unendliche Kräfte freisetzen könnte. Putin setzt das ein, was er hat. Die militärische Leistungsfähigkeit Russlands sehen wir gerade und sie ist nicht so stark, wie es jeder dachte. Wenn Putin eskalieren könnte, hätte er es längst getan. Auf Grundlage dieser Erfahrungen können wir jetzt zu einer anderen Bewertung kommen.

Die größte Sorge besteht wohl dahingehend, dass Putin mit Nuklearwaffen eskaliert.

Aber auch dieses Risiko müssen wir ja nicht im Bereich der Mythologie verorten. Der Einsatz einer strategischen Atomwaffe …

… das sind solche mit einer Sprengkraft, die ganze Regionen zerstören kann, und mit Reichweite über 5000 Kilometer und mehr …

ist ausgeschlossen. Das würde zur gegenseitigen Vernichtung führen. Die Abschreckung funktioniert seit vielen Jahrzehnten, sie funktioniert auch weiter.

Bliebe die Option einer taktischen Atomwaffe mit geringerer Reichweite und geringerer Sprengkraft, die auf dem Gefechtsfeld in der Ukraine eingesetzt werden könnte.

Da muss man nüchtern festhalten: Das ist weder ein "Ich gewinne den Krieg"-Knopf für Putin, noch ist es ein "Das Ende der Welt"-Knopf. Putin könnte damit Schaden anrichten, aber die Ukrainer würden trotzdem weiterkämpfen. Er hätte den Krieg nicht gewonnen, aber hätte diese hohen Kosten: Die Amerikaner haben ihm klargemacht, was konventionelle Gegenmaßnahmen wären, und China und andere würden von Russland abrücken. Deswegen halte ich die Wahrscheinlichkeit einer solchen Eskalation für sehr gering. Die Drohung mit Atomwaffen ist vor allem psychologische Kriegsführung, insbesondere in Bezug auf Deutschland, weil hier immer, wenn das Wort "Atom" fällt, sofort irrational reagiert wird. Niemand sollte ständig eine mythologische Eskalationsgefahr herbeireden. Wir beobachten die russischen Drohungen und das reale militärische Geschehen bereits seit mehr als einem Jahr, der Krieg hat ja nicht gestern angefangen. Wenn wir uns endlich nicht mehr einschüchtern lassen und uns nicht mehr selbst von Möglichkeiten des Handelns abschrecken, werden wir die Ukraine besser und letztlich erfolgreicher unterstützen können.

Mit Nico Lange sprach Frauke Niemeyer

Quelle: ntv.de

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