Explosionen auf der Krim "Angriffe sind Vorbereitung auf Frühjahrsoffensive"
23.03.2023, 09:34 Uhr (aktualisiert)
Die Ukraine bereitet sich momentan auf ihre in den nächsten Wochen zu erwartende Gegenoffensive vor.
(Foto: picture alliance/dpa/AP)
Mehrere Explosionen erschüttern in der Nacht die Krim. Der Ukraine zufolge wurden dabei russische Hyperschallraketen am Eisenbahnknotenpunkt Dschankoj zerstört. Für Russland ist das ein empfindlicher Schlag in die Magengrube, sagt Sicherheitsexperte Gerhard Mangott im Interview mit ntv.de. Ukraine verfüge über Drohnen, die Russlands Nachschublinien nachhaltig stören könnten. Seiner Meinung nach sind die Angriffe eine Vorbereitung auf die angekündigte Frühjahrsoffensive der Ukraine.
ntv.de: Vor drei Tagen hat Putin den offiziellen Bildern zufolge das erste Mal seit dem Angriffskrieg einen Fuß auf die Krim gesetzt. Jetzt greift die Ukraine dort unvermittelt an. Zufall?
Gerhard Mangott: Ich denke nicht, dass es da einen Zusammenhang gibt. Die ukrainischen Angriffe auf russische Raketentransporte hängen mit dem Zeitpunkt des Transports zusammen und nicht mit dem Besuch Putins.

Gerhard Mangott ist Politikwissenschaftler mit Spezialisierung auf Internationale Beziehungen und Sicherheitsforschung im post-sowjetischen Raum.
Noch ist unklar, welche Waffen die Ukraine bei ihrem Angriff eingesetzt hat. Russland spricht von Drohnen. Welche Waffen besitzt die Ukraine, die über eine solche Reichweite und Präzision verfügen?
Die Ukraine hat Drohnen aus eigener Produktion mit einer ausreichenden Reichweite, um Raketentransporte auf der Krim anzugreifen. Solche Drohnen hat die Ukraine schon mehrfach in den letzten 13 Monaten eingesetzt. Sie sind sehr weitreichend und leistungsfähig. Die Ukraine besitzt aber auch Drohnen aus ausländischen Lieferungen. Technisch sind sie jedenfalls in der Lage, auch weiter weg liegende Ziele anzugreifen.
Sie gehen also davon aus, dass die russischen Raketen bewusst getroffen wurden?
Die ukrainische Seite behauptet das zumindest. Russland bestätigt das natürlich nicht, weil es kein Interesse daran hat, der Ukraine den Erfolg zu bescheinigen. Sollte der Angriff aber erfolgreich gewesen sein, dann wahrscheinlich nur deswegen, weil die Ukraine Echtzeitaufklärung durch die USA erhalten hat und genau wusste, wo sich das Ziel befindet. Ohne die Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten wäre das sicherlich nicht möglich gewesen. Ich glaube deshalb auch nicht, dass das Ziel des Drohnenangriffs Zufall war.
Über den Eisenbahnknotenpunkt Dschankoj auf der Halbinsel liefert das russische Militär Nachschub für die Krim, darunter Raketen für die Schwarzmeerflotte. Was bedeutet das für die Russen, wenn diese Eisenbahnschienen zerstört würden?
Es handelt sich bei dieser Eisenbahnlinie um eine sehr wichtige Nachschublinie für Russland, sowohl für Truppen als auch für Geräte und Munition. Würde diese Eisenbahnlinie nachhaltig beschädigt, würde das Russland wehtun, keine Frage.
Auf der Krim gibt es nur zwei Eisenbahnstrecken. Wäre es also möglich, mit gezielten Angriffen diese Nachschublinien nachhaltig zu zerstören?
Grundsätzlich schon. Zwar wissen wir nicht, welche Drohnen mit welcher Sprengkraft hier eingesetzt wurden und wie groß die Zerstörungskraft ist. Dennoch ist es möglich, dass Eisenbahnlinien unterbrochen werden und damit ein gewaltiges Nachschubproblem für die Russen entsteht. Meiner Meinung nach sind die Angriffe ein strategisches Ziel der ukrainischen Seite in Vorbereitung ihrer Frühjahrsoffensive, die für die nächsten Wochen erwartet wird. Wir werden davon noch mehr sehen.
Welche Rolle wird die Krim für die ukrainische Frühjahrsoffensive spielen?
Zunächst wird es keinen Vorstoß auf die Krim geben, sondern vermutlich gegen die Stadt Melitopol. Wenn das gelingt, können die Ukrainer weiter an die Küste vordringen. Da wäre das Ziel, die Landverbindung zwischen dem Donbass und der Krim zu unterbrechen und die von Russland besetzten Gebiete in zwei Teile zu spalten.
Wäre die Krim denn für Russland zu halten, wenn die Ukraine jetzt anfängt, massiv Nachschublinien zu stören?
Es würde die Aufgabe immens erschweren. Aber Russland hat auch andere Möglichkeiten, die Krim militärisch zu verteidigen. Seit 2014 wurde dort eine Festung aufgebaut, mit Waffen und Munition bestückt und mit Schützengräben abgesichert. Allein die Zerstörung der Eisenbahnlinien wird nicht reichen, um Russland die Krim ohne große Kämpfe abzunehmen.
Wie kommt Russland an seinen Nachschub, wenn die Eisenbahntrassen zerstört würden?
Sie können auf die Straßen und auf andere Eisenbahnverbindungen, wie auf der Krim-Brücke über die Straße von Kertsch ausweichen. Ein Angriff auf die Krim-Brücke wäre vermutlich technisch möglich, obwohl sie sehr stark gesichert ist. Aber es ist sehr schwierig und würde Vergeltungsschläge auf ukrainische Ziele zur Folge haben, so wie es im Herbst letzten Jahres passiert ist. Nach der Attacke auf die Krim-Brücke hat Russland angefangen, gezielt Wärme, Wasser und Infrastruktur in der Ukraine zu zerstören. Zudem würde es wahrscheinlich von russischer Seite als Beginn einer militärischen Eskalation betrachtet werden.
Mit militärischer Eskalation meinen Sie den Einsatz von Atomwaffen?
Wenn die Krim tatsächlich gefährdet wäre, halte ich es für möglich, dass der Konflikt doch noch nuklear eskaliert. Der Verlust der Krim wäre ein Ereignis, das aus russischer Sicht niemals stattfinden darf. Die Implikationen für Russland - strategisch, militärisch, aber auch politisch - wären immens. Putin könnte sich dann nicht an der Macht halten. Für ihn wäre das eine desaströse Kriegsniederlage. Deswegen muss man sich fragen, ob das Kriegsziel der ukrainischen Regierung, auch die Krim zurückzuerobern, wirklich vertretbar ist oder ob die Ukraine nicht von ihren westlichen Verbündeten und Waffengebern zurückgehalten werden sollte.
Die Schlussfolgerung daraus wäre, dass der Krieg nur mit dem Verzicht auf die Krim enden kann. Gleichzeitig bestünde für die Ukraine weiterhin das Risiko, von der Krim aus von Russland angegriffen zu werden.
Das ist eben das Gegenargument. Es gibt zwei Lager in dieser Frage: Die einen sagen, die nuklearen Drohungen Russlands seien nur ein Bluff und dienten nur dazu, Angst zu verbreiten und Unsicherheit im Westen zu schüren, damit Russland die Krim behalten darf. Das ist zwar alles richtig, trotzdem glaube ich, dass es dieses Restrisiko einer nuklearen Eskalation gibt und die Folgen eines Nukleareinsatzes so gewichtig wären, dass es zu gefährlich ist, es drauf ankommen zu lassen.
Was passiert, wenn die Gegenoffensive der Ukrainer erfolgreich ist? An der Grenze zur Krim stoppen und nicht angreifen?
Ich glaube nicht, dass die Ukraine bereit wäre, vor der Krim haltzumachen. Im Hintergrund wird es aber von manchen westlichen Staaten Druck geben, eine bestimmte Linie nicht zu überschreiten. Der Westen ist in dieser Frage allerdings gespalten. Die nordischen, baltischen und osteuropäischen Länder unterstützen das maximale Kriegsziel der Ukraine, die Krim zu erobern. In den USA ist man sich unsicher, ob das wirklich passieren soll, wie auch in manchen Ländern in Westeuropa. Am Ende wird es eine politische Entscheidung sein, die vielleicht in Kiew, vielleicht aber auch anderswo gefällt wird.
Mit Gerhard Mangott sprach Vivian Micks
(Dieser Artikel wurde am Dienstag, 21. März 2023 erstmals veröffentlicht.)
Quelle: ntv.de