Wenn die NATO an die Grenze geht Würde Polen mit Patriots zur Kriegspartei?
28.05.2024, 20:11 Uhr Artikel anhören
Für die Ukraine eine Waffe, die effektiv gegen russische Luftangriffe schützen kann: Das Patriot-System aus den USA
(Foto: IMAGO/Newscom World)
Gegen massive russische Luftangriffe kann sich die Ukraine kaum zur Wehr setzen. Polen und andere Nachbarstaaten könnten mit Flugabwehr vom eigenen Territorium aus helfen. Würden die NATO-Staaten damit in den Krieg eintreten? Und falls ja, was würde das bedeuten?
Ein brennendes Einkaufszentrum in der ukrainischen Großstadt Charkiw, tagelang wird unter den Trümmern nach Opfern gesucht - Menschen, die samstags zum Baumarkt fahren, Familien beim Wochenendeinkauf. Die Toten aus dem "Hypermarket"-Angriff vom Samstag führen vor Augen, was es heißt, wenn ein Land sich nicht gegen feindlichen Beschuss aus der Luft zur Wehr setzen kann. Für die alten Waffensysteme der Ukraine ist die Munition aufgebraucht. Neue Systeme stellt der Westen nicht ausreichend zur Verfügung, Munition ist immer knapp.
Derzeit arbeitet die ukrainische Armee mit vier Patriot-Flugabwehrsystemen - eines kommt aus den USA, zwei sind aus Deutschland, das vierte ist eine deutsch-niederländische Kooperation. Nummer 5 soll im Sommer auch aus Deutschland kommen, Den Haag meldet, dass man gemeinsam mit Schweden, Spanien und Griechenland an Nummer 6 arbeite. Laut Bundeswehr schützt ein Patriotsystem den Luftraum in einem Radius von 68 Kilometern. Nicht viel Schutz für ein Land von mehr als 600.000 Quadratkilometern Grundfläche.
Was also tun, wenn die Russen mit massiven Luftschlägen die Bevölkerung terrorisieren und immer mehr kritische Infrastruktur zerstören? Wenn sie, wie Militärexperte Markus Reisner analysiert, schon jetzt gezielt auf Flugplätze feuern, um zu verhindern, dass von dort aus im Sommer endlich westliche F-16-Kampfjets zum Einsatz kommen können.
Aus militärischer Sicht gibt es einfache Mittel, die für die Ukraine einen Unterschied machen könnten: NATO-Mitglieder wie Polen oder die baltischen Staaten könnten mit ihrer eigenen Flugabwehr den Luftraum über der Westukraine mit abdecken. "So würden die Streitkräfte der Ukraine an dieser Stelle entlastet - sie könnten sich auf die Luftverteidigung weiter östlich im Land konzentrieren", schlägt Roderich Kiesewetter vor, Verteidigungsfachmann der CDU. Grünen-Politiker Anton Hofreiter und Marcus Faber von der FDP äußerten bereits dieselbe Überlegung. Laut Meldung der ukrainischen Nachrichtenagentur Ukrinform wird die Option auch in Polen diskutiert. Die Frage werde "aus rechtlicher und technischer Sicht geprüft", zitierte die Agentur einen Sprecher des polnischen Außenministeriums.
Falls es der russischen Luftwaffe gelingen sollte, die potenziellen F-16-Absprungplätze unter Beschuss zu halten, dann könnte auch für dieses Problem eine militärische Lösung in den Nachbarstaaten liegen. Indem etwa außerhalb ihrer Einsätze die Kampfjets nicht auf ukrainischem Gebiet, sondern auf NATO-Grund in den Nachbarländern abgestellt würden. Noch liegt diese Option nicht auf dem Tisch. Doch könnte das eine Frage der Zeit sein, falls anhaltende russische Luftangriffe den Einsatz von F-16 dauerhaft unterbinden.
Was aber würden solche Schritte für die Position der NATO-Staaten mit Blick auf das Kriegsgeschehen bedeuten? Würde Polen zur Kriegspartei, wenn es den Himmel über der Westukraine für russische Kampfjets und Marschflugkörper schließen würde? Wenn die Fliegerabwehr der Slowakei, Ungarns und Rumäniens sich beteiligen würden, überschritten diese Länder dann eine Art völkerrechtlichen Kipppunkt? Wären plötzlich NATO-Staaten im Krieg mit Russland?
"Letztlich geht es um die Frage: Wie und wofür stellt ein Partnerstaat der Ukraine sein eigenes Territorium zur Verfügung?", sagt der Völkerrechtler Alexander Wentker ntv.de. Er macht die Entwicklung vom Unterstützerstaat zur Kriegspartei an zwei entscheidenden Punkten fest: "Erstens braucht es einen direkten Bezug zu den Kampfhandlungen. Die Handlungen, die der unterstützende Staat tätigt, müssen unmittelbar Schaden beim Gegner hervorrufen."
Zweitens muss die Handlung laut Wentker eng koordiniert werden mit den militärischen Operationen der unterstützten Partei, also in diesem Fall der Ukraine. "Das sind die beiden abstrakten Kriterien", sagt der Wissenschaftler, der unter anderem am Max-Planck-Institut zu diesen Fragen forscht: "Direkter Bezug zu den Kampfhandlungen und enge Koordinierung mit den Militäroperationen."
Der Faktor des direkten Bezugs ist dabei klar eingegrenzt. "Beschränkt man sich darauf, der Ukraine Waffen zu liefern, dann ist es Sache der dortigen Armee, diese einzusetzen. Die Lieferung selbst verursacht nicht unmittelbar militärischen Schaden beim Gegner und macht den helfenden Staat daher nicht zur Kriegspartei", so Wentker. Das bedeutet: Auch wenn die Ukraine westliche Waffen auf russischem Gebiet einsetzen würde, blieben die Lieferstaaten am Krieg unbeteiligt.
Ebenso verhielte es sich, würde ein NATO-Staat seinen Schutzschirm für Luftverteidigung über Teilen des ukrainischen Staatsgebiets ausbreiten. Auch hier wäre zunächst kein unmittelbarer Bezug zu Kampfhandlungen vorhanden. Das jedoch würde sich schlagartig ändern, wenn die NATO-Flugabwehr gegen russische Angriffe tatsächlich zum Einsatz käme. "Man würde dann ja selbst Kampfhandlungen ausführen", erläutert Wentker. Auch an einer engen Koordinierung mit der ukrainischen Armee könnte dann kein Zweifel bestehen. "Wenn man in dem Fall den Luftabwehrschirm über der Ukraine so austariert, dass diese entsprechende Ressourcen anderswo einsetzt, dann teilt man sich das Gebiet untereinander auf." Für Wentker eine "sehr enge operationelle Koordinierung".
Eine Stationierung etwa von Kampfjets auf Militärbasen in NATO-Ländern würde aus Sicht des Wissenschaftlers noch nicht zwingend einen Eintritt in den Krieg bedeuten, jedoch käme man "schon eher in den relevanten Bereich". Würden von NATO-Territorium aus unmittelbar ukrainische Militäroperationen geflogen, würde das einen direkten Bezug zu Kampfhandlungen nahelegen auch eine enge Koordinierung zwischen den Armeen voraussetzen. "Dann könnte man durchaus von einem Status als Kriegspartei sprechen."
Politisch ist hier schon zu Beginn des Krieges von den NATO-Staaten eine rote Linie gezogen worden. Im Sinne des Völkerrechts zur Kriegspartei zu werden, war und ist aus Sicht der NATO-Mitglieder streng zu vermeiden. Ein häufiges Missverständnis: "Die politische Entscheidung wird an einen Rechtsbegriff gekoppelt", so Wentker: "Als würden wir mit dem Kriegseintritt auch eine rechtliche Grenze überschreiten und etwas tun, was wir nicht tun dürfen. Das allerdings stimmt nicht."
Denn genau, wie es Völkerrecht und UN-Charta der Ukraine erlauben, sich zu verteidigen, darf man ihr bei der Verteidigung helfen. Das auch in kollektiver Selbstverteidigung direkt an ihrer Seite und mit boots on the ground - also Soldaten im Kampf. "Es würde auch Russland kein Recht geben, daraufhin NATO-Staaten anzugreifen."
Die häufige Annahme, "dass Russland uns angreifen dürfte, sobald wir zur Kriegspartei werden", rührt Wentker zufolge aus Kriegsvorstellungen, die aus dem 19. Jahrhundert stammen, "als Krieg noch nicht verboten war". Spätestens seit Bestehen der UN-Charta jedoch gilt ein generelles Gewaltverbot, "das sich als tragende Säule der Völkerrechtsordnung herausgebildet hat". Angriffskriege sind verboten.
Durch einen Kriegseintritt würden sich laut Wentker gewisse Regeln ändern, die der jeweilige Staat dann beachten müsste. Er hätte dann besondere Pflichten gemäß dem humanitären Völkerrecht. Doch "die Bremse im Kopf, die wir haben müssen, ist nicht das Völkerrecht. Es ist eine politische Frage, ob man einen Kriegseintritt vollziehen möchte oder sollte."
Quelle: ntv.de