Reisners Blick auf die Front "Indizien häufen sich: Russen sammeln sich für weiteren Vorstoß"
27.05.2024, 18:43 Uhr Artikel anhören
Russische Soldaten feuern mit einer Haubitze gegen ukrainische Stellungen.
(Foto: IMAGO/SNA)
Russische Truppen scheinen sich nordwestlich von Charkiw für einen weiteren Vorstoß zu sammeln. Sie tun es auf russischem Boden. Wie kann sich die Ukraine wehren? Oberst Markus Reisner analysiert die Lage für ntv.de.
ntv.de: Die ukrainische Armee hat seit etwa drei Wochen mit der Erweiterung der Front zu kämpfen. Wie entwickelt sich die Situation bei Charkiw?
Markus Reisner: Auf der operativen Ebene ist der Faktor Kraft gerade entscheidend. Die Ukraine hat zunehmend das Problem, dass ihr Soldaten fehlen. Es werden überall Kräfte zusammengekratzt - so muss man leider sagen -, um sie nach Charkiw zu verlegen und die Offensive der Russen hier zum Stehen zu bringen. Man erwartet sogar eine ukrainische Gegenoffensive. Aber klar ist natürlich, dass diese Kräfte dann vor allem im Donbass fehlen, wo der Druck der Russen weiterhin stark ist. Vor kurzem hat die Ukraine die Aufstellung der Brigaden 150 bis 154 gemeldet. Jetzt sollen 155 bis 159 aufgestellt werden, dann hätte man hier wieder zehn Brigaden als Reserve verfügbar. Die Frage wird sein, wie gut die ausgestattet sind.
Gestern richtete der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, in den Trümmern eines Verlags in Charkiw stehend, einen dramatischen Appell an die Welt: Er bat um Unterstützung für den Friedensgipfel im Juni und erwähnte auch, 90 Kilometer entfernt würden sich weitere russische Kräfte sammeln. Können Sie das bestätigen?
Die Indizien häufen sich, dass zusätzlich zur Offensive bei Charkiw die Russen nordwestlich von dort auch noch vorstoßen könnten. Viele gehen davon aus, dass das im Raum Sumy der Fall sein wird. Ich denke, die neue Front wird näher sein, zwischen Sumy und Charkiw selbst. Wenn Sie zwischen diesen beiden Städten eine Linie ziehen, kommt die russische Grenze dieser Linie in der Mitte ziemlich nahe. Dort haben Sie eine Ortschaft mit Namen Graiworon: Dort und in weiteren Grenzdörfern wurde im vergangenen Jahr recht intensiv gekämpft. Erinnern Sie sich, als Bachmut kurz vor dem Fall stand?
Da wurden plötzlich aus dem Raum Charkiw Vorstöße auf russisches Gebiet gemeldet.
Die Ukraine versuchte damit, den Blick des Betrachters von der sich abzeichnenden Niederlage in Bachmut wegzulenken, hin auf diesen Vorstoß sogenannter russischer Freiwilliger auf russisches Territorium. Das passierte genau dort, bei Graiworon. Ich denke, Putin will auch hier eine Art Pufferzone schaffen, um solchen Operationen einen Riegel vorzuschieben. Die Ukraine allerdings bekäme in diesem Fall noch einmal etwa 200 Kilometer Front zusätzlich. Am schlimmsten wäre es, wenn die Russen in Richtung Sumy vorstoßen könnten, also noch weiter in Richtung Nordwesten. Weil dort die Distanzen noch größer sind.
Wenn die russische Armee ihre Truppen in Graiworon zusammenzieht, würde das bedeuten: Die Ukraine hat erneut das Problem, dass die Russen sich auf russischem Gebiet zum Angriff sammeln können, und die Ukraine kann das nicht verhindern, weil sie mit der westlichen Munition dorthin nicht schießen darf.
Genau darauf bezog sich Selenskyj auch in seinem Appell: Die westlichen Verbündeten machen es seinen Streitkräften unmöglich, die Bereitstellungsräume der Russen anzugreifen, weil es offensichtlich diese Vorgabe gibt, westliche Waffensysteme nicht auf russischem Territorium einzusetzen.
Mit ihren eigenen Drohnen kann die Ukraine da nichts ausrichten?
Wenig. Wenn Drohnen mit Sprengstoff beladen sind, eignen sie sich dazu, Industrieobjekte anzugreifen, einzelne Militärobjekte, Erdölraffinerien - das haben wir ja gesehen in letzter Zeit. Einen Bereitstellungsraum muss man sich aber so vorstellen: Die Truppen und das Gerät, Panzer zum Beispiel oder Fahrzeuge, stehen aufgelockert. Falls möglich, stehen sie getarnt in bewaldetem Gebiet. Man braucht Flächenwaffen, um hier anzugreifen, also Artillerie und ATACMS.
Vor allem die Version mit dem Gefechtskopf für Streumunition?
Das ist genau die Waffe, die man gegen eine solche Bereitstellung verwenden würde. Früher hatte die Ukraine eigene Raketensysteme vom Typ Tochka-U. Die sind aber praktisch alle verschossen. Und da kämen jetzt die USA mit ATACMS ins Spiel. Wenn es zu einer weiteren Offensive kommen sollte, von Graiworon ausgehend, dann liegt es eindeutig daran, dass es keine Angriffe auf die Bereitstellungsräume gegeben hat. Die Russen können sich aufstellen und direkt in den Angriff übergehen.

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und analysiert jeden Montag bei ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.
(Foto: ntv.de)
Würde man dort ATACMS mit Streumunition einsetzen, wäre das dann auch mit Blick auf russische Störsender von Vorteil?
Ja, eben weil Clustermunition eine Flächenwaffe ist, das heißt, es kommt nicht auf Präzision an. Eine solche Rakete fliegt in einen Raum, dreht sich über dem Ziel in der Luft und schleudert dabei viele einzelne Sprengkörper aus. Die kommen dann verstreut in einem gewissen Umkreis herunter. Russische Störsender behindern die Zielfindung der ukrainischen Raketen, leiten diese ab, sie können nicht mehr exakt treffen. Die Rakete mit Streumunition muss aber gar nicht exakt treffen. Sie wirkt auf größerer Fläche, auch wenn sie nicht punktgenau über dem Ziel ausgelöst wurde. Aber der Einsatz dieser US-Munition über russischem Staatsgebiet ist den Ukrainern offensichtlich bislang nicht gestattet. Vielleicht schauen wir von der operativen einmal auf die strategische Ebene? Dorthin, wo sich faktisch entscheidet, wie dieser Krieg verläuft, zugunsten oder zuungunsten der Ukraine.
Da häuften sich die Luftangriffe in den letzten Wochen. Wie sehr setzt das der Ukraine zu?
In der Nacht vom 25. auf den 26. Mai haben wir den dritten Luftangriff binnen zweier Monate gesehen, nur zehn Tage nach dem vorherigen. Angegriffen wird die kritische Infrastruktur, und wie groß dieses Problem gerade für die Ukraine wird, sehen Sie an Nachrichten in den sozialen Medien: Immer häufiger kommen Hinweise, dass der Strom abgeschaltet wird, teilweise über Stunden oder ganze Nächte. Es wird sichtbar: Die kritische Versorgungsstruktur im Land ist schwer getroffen. Und ein weiterer Punkt wird deutlich, wenn wir uns diese letzten Angriffe ansehen.
Nur zu.
Wenn wir die letzten drei massiven Luftangriffe betrachten, den einen im April und die letzten beiden im Mai, dann fällt Folgendes auf: Die Angriffe haben sich vor allem auf den Zentral- und auf den Westraum der Ukraine konzentriert. Unter anderem auch auf Flugplätze.
Auf solche, von denen aus die ukrainische Luftwaffe auch Einsätze ihrer Kampfjets startet?
Die Herausforderung für die Ukraine ist: Mit den wenigen verfügbaren Flugzeugen, die sie haben, müssen sie permanent den Standort wechseln, damit sie von den Russen nicht erkannt werden. Die russische Armee wiederum versucht, die Flugzeuge zu zerstören, aber auch, die Absprungplätze zu beschädigen, damit sie nicht mehr genutzt werden können. Hier fällt auf, dass vor allem Plätze im Westen des Landes angegriffen wurden.
Was bedeutet das?
Wir können daraus herleiten, dass die Russen versuchen, mögliche vorbereitende Maßnahmen für den Einsatz westlicher F-16-Kampfjets zunichtezumachen. Die F-16 sind wesentlich anspruchsvoller als die ukrainischen Flugzeugmodelle, also MIG29, SU27 oder SU24. Ein westliches System wie F-16 braucht eine Reihe von unterstützenden Anlagen, um funktionieren zu können. Die baut die Ukraine derzeit, und das an mehreren Stellen, damit die F-16 immer wieder ihren Standort wechseln kann und nicht entdeckt wird. Mit ihren Angriffen auf die Flugplätze im Westen, wo diese Anlagen gebaut werden, wollen die Russen den Einsatz der F-16 weiter verzögern.
Welchen Ausweg gibt es?
Gerade hier würde die Ukraine Luftverteidigung, also Fliegerabwehrsysteme mittlerer und hoher Reichweite, als wesentliches Element auf der strategischen Ebene benötigen, in der Tiefe des Landes und nicht nur an der Front. Die fehlt jedoch.
Wenn man die Flugplätze im Land nicht schützen kann: Könnten die F-16 auf NATO-Gebiet stehen? In Polen etwa und von dort aus in ihren Einsatz im ukrainischen Luftraum starten?
Aus militärischer Sicht wäre das eine Alternative. Aber das hat natürlich eine massive Implikation für die Frage der Kriegsbeteiligung. Im Moment ist die Position innerhalb der NATO unstrittig: Das reine Unterstützen der Ukraine mit Waffenlieferungen ist keine Beteiligung am Krieg. Diese Ansicht wird unisono vertreten. Viel kontroverser wäre die Einschätzung, wenn F-16 von Polen aus in den Einsatz fliegen würden. Wenn Sie genau hinhören, wird das auf ganz ähnlicher Ebene bereits intensiv debattiert: Zum Schutz des ukrainischen Luftraums gibt es den Vorschlag, an der polnischen Grenze Systeme zu stationieren, die rein defensiv anfliegende russische Marschflugkörper im Westen der Ukraine abschießen.
Aus Ihrer Sicht zu beiden Vorschlägen: Wären die machbar?
Das ist eine politische Entscheidung. Momentan ist die Sichtweise in der NATO: Würden von NATO-Basen aus massiv Waffensysteme in der Ukraine eingesetzt, wäre das völkerrechtlich eine Situation, die nicht mehr vergleichbar ist mit der Situation davor. Das heißt, man hätte hier tatsächlich eine Kriegsbeteiligung.
Und aus militärischer Sicht?
Aus militärischer Sicht muss ich klar sagen: Wenn es nicht gelingt, in der Westukraine Absprungplätze für die F-16 zu schaffen, die so belastbar sind, dass sie den Einsatz der westlichen Jets über mehrere Monate ermöglichen, dann wird es sehr, sehr schwierig für die Ukraine.
Mit Markus Reisner sprach Frauke Niemeyer
Quelle: ntv.de