Politik

Hilferuf aus Lesbos "Wir sitzen in der Vorhölle"

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Drei Monate nach dem Brand im Lager Moria bleibt die Lage im Ersatzlager auf Lesbos katastrophal. Zu Weihnachten appellieren die Bewohner in einem Offenen Brief an die EU, endlich zu helfen.

Es war Heiligabend vor einem Jahr als Ali Bakhtyari zum ersten Mal europäischen Boden betrat. In einem Boot kam der Afghane aus der Türkei nach Lesbos. Zwölf Monate später hat er noch immer nichts anderes von Europa gesehen als die griechische Insel. Der 19-Jährige sitzt zusammen mit rund 7000 anderen Geflüchteten im Lager Kara Tepe fest, das nach dem Feuer im Camp Moria im September ersatzweise aufgebaut wurde. Die meisten sind wie Ali schon lange hier - ohne klare Aussicht auf eine Asylentscheidung. "Es reicht. Die meisten Menschen hier sind erschöpft und krank davon", sagt Ali im Gespräch mit ntv.

In dieser katastrophalen Lage gehen die Bewohner von Kara Tepe jetzt einen ungewöhnlichen Schritt: Sie haben einen Offenen Brief an EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und alle Europäerinnen und Europäer geschrieben. Es ist ein Hilferuf zu Weihnachten. "Lassen Sie uns ganz klar sagen: Wir alle können die Vorstellung nicht ertragen, dass ein neues Jahr für uns und die Flüchtlinge in den anderen Lagern wie Samos und Chios so beginnt", schreiben die Initiatoren im Namen der Bewohner. Tiere hätten mehr Rechte als sie: Freiheit von Schmerzen und Angst, ausreichend Platz, Bedingungen, die psychisches Leiden vermeiden. "Deshalb fragen wir Sie ganz ehrlich: Würden wir auch so behandelt werden, wenn wir Tiere wären?"

"Nicht mal Hunde würden das essen"

Ali Bahktyari hat auf seinem Handy einen Film von einem Rundgang durch das Lager Kara Tepe. Dieser zeigt, wovon in dem Brief die Rede ist. Von seinem Zelt, in dem er zusammen mit 127 anderen Männern lebt, läuft er zu den Duschen. Aus den meisten komme nur kaltes Wasser. Wer warmes möchte, brauche eine Marke. "Dann darf man sieben Minuten duschen", sagt Ali. Die Aufnahmen zeigen, wie einige Zelte von Sandsäcken umgeben sind. Sie sollen verhindern, dass das Wasser bei jedem Regen erneut eindringt. Das passiert in dem windigen Zipfel am Nordufer von Lesbos im Herbst und Winter häufig. An der Essensausgabe ist gerade Pause, als Ali mit dem Handy dort vorbeikommt. Für ihn kein schöner Ort. "Nicht mal Hunde würden das essen. Uns aber geben sie es", sagt er.

Nach dem Feuer im Flüchtlingslager Moria seien ihnen diverse Versprechungen gemacht worden, schreiben die Geflüchteten in dem Brief an die Europäer. Im neuen Lager aber sei wenigebesser und einiges sogar schlechter geworden. "Wie kommt es, dass wir nach drei Monaten und so vielen Millionen von Regierungsspenden und von NGOs gesammelten Geldern immer noch an einem Ort ohne fließendes Wasser, heiße Duschen und ohne ein funktionierendes Abwassersystem sitzen?"

Kühnert unterstellt Athen Kalkül

Die Menschen seien auf den guten Willen einiger Organisationen angewiesen, die gebrauchte Kleidung und Schuhe verteilen. Auch die nach dem Brand versprochenen, schnelleren Asylverfahren gebe es nicht. "Stattdessen sitzen wir hier in der Vorhölle und haben nichts anderes zu tun als zu warten." Ali nennt es "eine Schande für die EU". Zuletzt hatte auch Entwicklungsminister Gerd Müller im ntv-"Frühstart" die Bedingungen auf Lesbos als "Skandal" bezeichnet. Sie seien schlimmer als in afrikanischen Lagern. "Es ist nass, die Kinder frieren, es laufen Ratten durch die Lager. Unerträglich."

SPD-Vize Kevin Kühnert sieht dahinter Kalkül der griechischen Regierung: Menschen sollten abgeschreckt werden, sich nach Europa aufzumachen. "Insofern soll auch niemand denken, dass das Zufall ist, dass diese Ausstattung so schlecht ist", sagt er ntv. In der Verantwortung sei aber die gesamte EU. Deutschland nehme dank der SPD zwar immerhin eine "homöopathische" Zahl von Menschen auf. Das reiche aber nicht. Zahlreiche Kommunen hätten sich zu mehr Aufnahmen bereiterklärt, Bundesinnenminister Seehofer verweigere sich aber. "Ich habe jegliche Hoffnung aufgegeben, dass Horst Seehofer Teil der Lösung dieses Problems sein wird", sagt Kühnert.

"Bereit, uns selbst zu helfen"

n dem Offenen Brief betonen die Geflüchteten jetzt, es gehe ihnen nicht um weitere Spenden oder Regierungsgelder. Das vorhandene Geld müsse vielmehr endlich dafür ausgegeben werden, dass Lager vernünftig herzurichten. Das könnten sie unter professioneller Anleitung sogar selbst: "Wir sind bereit, uns selbst zu helfen und hart zu arbeiten, wenn man uns nur lässt und vertraut, dass wir diesen Ort besser machen können."

Ali Bakhtyari würde gerne in Deutschland leben, sollte sein Asylantrag genehmigt werden. Er sagt aber auch: Eine Abschiebung zurück nach Afghanistan sei genauso möglich. Sein Wunsch für 2021 gilt den Geflüchteten, die vielleicht erst noch auf den griechischen Inseln ankommen. Ihnen wünsche er, dass sie nicht auch ein Jahr lang so leben müssten wie er. Gestrandet auf Lesbos, seit dem seit Weihnachten.

Quelle: ntv.de

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