
Protest am Samstag in Hamburg.
(Foto: imago images / xim.gs)
Der Vorsitzende der CDU/CSU-Gruppe im Europaparlament, Daniel Caspary, sagt, eine NGO habe Demonstranten bis zu 450 Euro "für die Demoteilnahme" geboten. Das wäre ganz schön teuer - wenn der Vorwurf stimmt.
Das Zitat eines CDU-Europaabgeordneten erhitzt die Gemüter von Nutzern im Internet. Es geht, mal wieder, um die Urheberrechtsrichtlinie, die an diesem Dienstag im EU-Parlament verabschiedet werden soll.
Der "Bild"-Zeitung hatte Daniel Caspary gesagt: "Nun wird offensichtlich versucht, auch mit gekauften Demonstranten die Verabschiedung des Urheberrechts zu verhindern. Bis zu 450 Euro werden von einer sogenannten NGO für die Demoteilnahme geboten. Das Geld scheint zumindest teilweise von großen amerikanischen Internetkonzernen zu stammen. Wenn amerikanische Konzerne mit massivem Einsatz von Desinformationen und gekauften Demonstranten versuchen, Gesetze zu verhindern, ist unsere Demokratie bedroht."
Nach massiver Kritik aus seiner eigenen Partei ruderte Caspary am Sonntag zurück: "Um eines klarzustellen: nie habe ich gesagt, alle Demonstranten seien gekauft", twitterte er. "Vor den vielen Menschen, die für ihre Meinung auf die Straße gehen, habe ich großen Respekt. Immer werde ich mich für Freiheit, Demokratie und das Recht auf Demonstrationen einsetzen. Ich bedauere, wenn ein anderer Eindruck entstanden sein sollte."
Am Samstag demonstrierten Zehntausende gegen die geplante Richtlinie, vor allem gegen Artikel 13 (auch wenn der in dem Text, der am Dienstag verabschiedet werden soll, unter Nummer 17 läuft). Dieser Artikel sieht vor, dass Plattformen wie Youtube künftig für Urheberrechtsverletzungen verantwortlich sind - und nicht jene, die urheberrechtlich geschütztes Material auf diese Plattformen hochladen. Von Uploadfiltern steht zwar nichts im Entwurf der Richtlinie. Kritiker fürchten jedoch, dass solche technischen Lösungen die Regel werden, wenn die Urheberrechtsrichtlinie geltendes Recht wird. Solche Uploadfilter können Parodien und zulässige Zitate häufig nicht von Urheberrechtsverletzungen unterscheiden und dürften daher auch Inhalte sperren, die unproblematisch sind.
Der Streit um die Richtlinie ist mittlerweile recht aggressiv geworden. Aber "bis zu 450 Euro" für einen Demonstranten? Caspary hat zwar klargestellt, dass er nicht sagte, alle Demonstranten seien gekauft. Aber dennoch suggerierte er, dass es um viel Geld geht. In München, wo am Samstag die größte Kundgebung stattfand, protestierten nach Angaben der Veranstalter 50.000, nach Angaben der Polizei 40.000 Menschen. Man weiß ja, dass die großen amerikanischen Internetkonzerne über beträchtliche Mittel verfügen. Aber kaufen sie auch Demonstranten?
"Spinnt ihr total?"
Caspary ist kein Hinterbänkler, sondern Vorsitzender der CDU/CSU-Gruppe im Europaparlament. Deren Twitter-Account verbreitete den letzten Satz aus dem "Bild"-Zitat über Twitter - und löste damit einen Shitstorm aus. Auch CDU-Politiker zeigten sich entsetzt.
Das Social-Media-Team der CDU/CSU-Gruppe im Europaparlament "steht leider für wiederholtes Zurschaustellen völliger Ahnungslosigkeit", twitterte etwa der CDU-Bundestagsabgeordnete Matthias Hauer. "Das schadet CDU und CSU massiv." Der unionsnahe Digitalverein C-Netz schrieb an die Adresse diverse Spitzenpolitiker der Union, "das geht alles viel zu weit bei dem Twitterteam der @CDU_CSU_EP. Wir wünschen uns dringend, dass hier Einhalt geboten wird!" Der schleswig-holsteinische CDU-Landtagsabgeordnete Lukas Kilian fragte in Richtung der CDU/CSU-Gruppe: "Spinnt ihr total? 'Gekaufte Demonstranten' ist der Tiefpunkt des Tiefpunkts." Ruprecht Polenz, bis 2013 Bundestagsabgeordneter der CDU und Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses, übte grundsätzliche Kritik am Umgang seiner Partei mit Jugendprotesten: "Wenn meine Partei nicht endlich die Kurve kriegt, positiv auf #fridayforfuture und #savetheinternet antwortet und die Demonstrantinnen und Demonstranten ernst nimmt, wird sie eine ganze Generation verlieren."
Caspary scheint sich mit seinem Vorwurf auf eine Aktion der Digital-NGO Edri zu beziehen, über die die "Bild am Sonntag" heute folgendes schreibt: "Die internationale Bürgerrechtsorganisation Edri spendierte 'Reisestipendien' nach Brüssel und Straßburg, um den Druck auf die Parlamentarier bei der Abstimmung in direkten Gesprächen zu erhöhen. Für die ausgewählten 20 Aktivisten aus ganz Europa, darunter auch aus Deutschland, gab es bis zu 350 Euro Reisekostenerstattung, zwei Gratis-Übernachtungen sowie Workshops, in denen sie für die Gespräche instruiert wurden." Edri werde unter anderem "von Konzernen wie Twitter und Microsoft" finanziert.
Diese Reisestipendien gab es wirklich, die Kosten für die zwei Übernachtungen gibt Edri mit jeweils 50 Euro an - macht 450 Euro, wie bei Caspary. Das Geld gab es allerdings nicht "für die Demoteilnahme" und schon gar nicht für "gekaufte Demonstranten", sondern für die "Reisekosten von bis zu 350 Euro", um nach Brüssel zu kommen, wie es auf der Seite der Organisation heißt. Dort sprachen "ungefähr 20 Personen" mit Europaabgeordneten, wie das dänische Edri-Mitglied Jesper Lund auf Twitter auf Anfrage des ARD-Journalisten Dennis Horn erklärte.
Spenden von Twitter und Microsoft: 15.000 Euro
Und die Finanzierung durch Internetkonzerne? Dem Edri-Jahresbericht von 2017 zufolge (dem jüngsten verfügbaren, pdf hier) gab es tatsächlich Spenden von Twitter und Microsoft: Twitter überwies der Organisation 5000, Microsoft 10.000 Euro. Zusammen spendeten mehrere Konzerne knapp 82.000 Euro. (Die Spendensumme, die Edri 2017 insgesamt erhielt, beläuft sich auf rund 730.000 Euro und stammt größtenteils von Stiftungen.)
Kurzum: Die demokratiegefährdenden gekauften Demonstranten hat es nie gegeben - genauso wenig wie eine angeblich von den großen Plattformen gesteuerte "Sommerkampagne", von der der CDU-Europaabgeordnete Axel Voss im Interview mit Vice gesprochen hatte. (Als Beleg hatte Voss auf einen Artikel in der FAZ verwiesen, der kürzlich vom Medienjournalisten Stefan Niggemeier zerlegt wurde.)
Beide Seiten werfen sich gegenseitig Dummheit vor. Befürworter wie Caspary und Voss halten den Kritikern vor, sich zu nützlichen Idioten von Google und Co. zu machen. Von der Gegenseite kommt der Vorwurf, die zuständigen EU-Politiker verstünden nicht, wie das Internet funktioniert. Die Europaabgeordnete der deutschen Piratenpartei, Julia Reda, sagte, Google und Facebook würden zu den Gewinnern zählen, wenn die Reform verabschiedet wird. "Denn wenn diese Technologien verpflichtend werden, dann müssen alle kleineren europäischen Plattformen diese Filter von den Großen einkaufen."
Jenseits der politischen Ebene ist der Streit noch heftiger eskaliert. Voss, der das Thema für das Parlament verhandelt hat, wurde auf einzelnen Plakaten bei den Demonstrationen beschimpft und verunglimpft. Er bekommt Morddrohungen, auf einer Social-Media-Plattform wurde behauptet, jemand habe eine Bombe in seinem Bonner Wahlkreisbüro versteckt, die explodieren werde, wenn das EU-Parlament der Richtlinie zustimmt.
Quelle: ntv.de