Kommentare

Krise hinter Silvesterkrawallen Ein Staat, der nicht liefert, ist geliefert

389940512.jpg

Angriffe auf Polizisten in der Silvesternacht könnten als Symptom für politische Fehler verstanden werden - dann klappt es vielleicht auch mit der Lösung.

(Foto: picture alliance/dpa/TNN)

Über die Herkunft der Menschen, die sich in der Silvesternacht zu gewalttätigen Mobs zusammengeschlossen haben, kann und muss geredet werden. Doch egal, wie die Antwort auf die Frage nach dem Täterprofil ausfällt: Der Staat muss reagieren, steht aber schwach da wie nie.

Die Berliner CDU hatte nach den Silvesterkrawallen die Idee, die Vornamen aller in diesem Zusammenhang festgenommenen Verdächtigen abzufragen. Sie hätte gut daran getan, stattdessen die Vornamen aller eingesetzten Polizisten, Feuerwehrleute und Sanitäter der Silvesternacht abzufragen. Sie hätte erfahren, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, das in sehr vielen Fällen durchaus gut funktioniert. Denn Eingewanderte und deren Kinder können hier ankommen und in Gesellschaft und Wirtschaft ihren Beitrag leisten.

Zuwanderung ist ein Schlüssel, um eine dramatische Krise abzufedern, mit der sich die Bundesrepublik konfrontiert sieht: dem rapide steigenden Mangel an Arbeitskräften. Der demografische Wandel ist gleichermaßen mit ursächlich dafür, dass die Problemlagen - nicht nur in den migrantisch geprägten Armutsvierteln der Großstädte - zunehmen und dafür, dass die Politik auch mit klugen Konzepten und noch so viel Geld keine schnelle Abhilfe leisten kann.

Der Staat ist fern, die Probleme nah

Staatsverachtung und enthemmte Gewalt sind ein wachsendes Problem, das sich ganz unterschiedlich äußert. Deutschland hat auch deshalb mit teils rigorosen Freiheitsbeschränkungen auf die Corona-Pandemie reagiert, weil ein zuvor schon in Teilen überlastetes, dysfunktionales Gesundheitssystem vollständig zu kollabieren drohte. In der Folge haben sich Menschen aus allen möglichen Milieus vom Staat entfremdet, auch wenn längst nicht jeder Maßnahmenkritiker den Verschwörungstheorien und Querdenkerprotesten anheimgefallen ist. Die demografische Krise ist es auch, die die Menschen auf dem Land zu spüren bekommen, wenn Schulwege länger werden, Gesundheitsdienste ausdünnen und die Polizei im Normalfall selten, im Ernstfall zu spät vor Ort ist. Auch dies dürfte ein Grund dafür sein, dass es etwa in Teilen Sachsens zum Jahreswechsel Gewaltausbrüche gab und die dortige Jugend leichte Beute für extremistische Rattenfänger ist.

In den Städten wiederum wirkt sich der Personalmangel am stärksten aus, wo die Probleme am größten sind: bei der unterprivilegierten Jugend. Die Schulen erleben landauf, landab seit Jahren massiven Zulauf von Kindern, deren Muttersprache nicht deutsch ist. In Teilen Berlins und anderer Städte gibt es Schulen, an denen kaum ein Kind Deutsch spricht mit seinen Eltern. Doch die Fachlehrerquote in den Klassen ist zeitgleich immer dünner geworden. Berlin gelingt es nicht einmal mehr, die hohe Zahl an Lehrkräften, die in den Ruhestand gehen, mit weniger qualifizierten Quereinsteigern zu kompensieren. Stellen für Schulpsychologen und -sozialarbeiter bleiben ebenfalls unbesetzt. Einstellungsoffensiven bei Polizei und Feuerwehr scheitern ebenso wie in den Kliniken an den schlicht nicht vorhandenen Arbeitskräften. Eine wirksame Justiz, bei der die Strafe auf den Fuß folgt, braucht mehr Richter, mehr Staatsanwälte und mehr Verwaltungspersonal. Selbst der Wohnungsausbau tritt auf der Stelle, weil die Baubranche - neben anderen Problemen - keine Mitarbeiter mehr findet. Die Wohnsituation in den Städten ist aber derart prekär geworden, dass sich der Trend zu Ghettoisierung weiter verschärft.

Diese Jungs und Männer werden bleiben

Wer also feststellt, dass die enthemmte Gewalt in Berlin und anderen Städten auch ein Ausländerproblem sei, hat zur Lösung erst einmal wenig beigetragen. Diese Jungs und Männer werden bleiben: entweder, weil sie ohnehin die deutsche Staatsbürgerschaft haben, oder weil sie aus Ländern wie Syrien und Afghanistan stammen, in die aus guten Gründen nicht abgeschoben wird. Zuwanderer, die nicht als Fachkräfte angeworben wurden, werden sogar noch mehr werden in Deutschland. Weil Menschen vor Kriegen fliehen, weil das Elend in der Welt aus vielschichtigen Gründen zunimmt und weder Deutschland noch die EU all diese Menschen wird draußen halten können, allen Versuchen zum Trotz. Also muss Deutschland auch mit diesen Menschen umgehen lernen, ob sie hier nun von allen erwünscht sind oder nicht. Wer mit 16 betrunken und im Mob mit anderen randaliert, ist nicht zwangsläufig auf alle Zeit für die Gesellschaft verloren. Dieses Land hat seiner Jugend, und darin liegt die Chance der Krise, so viel mehr Perspektiven zu bieten als in den quälenden Jahren der Ausbildungspakte und Praktika-Dauerschleifen für Hochschul-Absolventen.

Doch das wird deutlich mehr Kraft und Ausdauer kosten, als es für schnelle Empörung in Politiker-Interviews und Social-Media-Posts braucht. Ein Staat, der mit weniger Mitarbeitern mehr Probleme lösen muss, muss priorisieren. Wo soll er sichtbar sein? Wo wird er unbedingt gebraucht, weil die Kosten des Nichtstuns größer sind als die des Handelns? Ganz sicher fallen die Sicherheitsbehörden und Gesundheitsdienste, die Bildungs- und Sozialarbeit in diese Kategorie. Sie müssen, unabhängig von der Kassenlage in Bund, Ländern und Kommunen und unabhängig von kurzfristigen demografischen Ausschlägen, attraktive Arbeitsplätze darstellen. Juristen müssen in den Staatsdienst wollen, Lehrer und Sozialarbeiter müssen Brennpunktschulen oder Schulen in dünn besiedelten Regionen attraktiv finden, das Krankenhaus muss attraktivster Arbeitgeber sein für Ärzte und Pfleger und nicht die Privatpraxis. Denn wenn der Staat nicht liefert in seinem Versprechen auf Sicherheit, Daseinsfürsorge und die Chance auf ein besseres Leben durch Arbeit, ist er selbst geliefert. Dann sind die Gewaltexzesse zum Jahresbeginn erst der Anfang - und das kann wirklich niemand wollen.

Quelle: ntv.de

ntv.de Dienste
Software
Social Networks
Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen