England jubelt ohne den BVB-StarDas Risiko ohne Sancho wird belohnt

Jadon Sancho nicht im Kader, der "Yorkshire Pirlo" im Mittelfeld - und sogar seinen Jüngsten wechselt er noch ein: Englands Trainer Gareth Southgate überrascht beim erfolgreichen EM-Start gegen Kroatien mit seiner Aufstellung. Vereint sich die Nation nun hinter seinem Team?
Was hätte Gareth Southgate sich im schlimmsten Fall nicht alles anhören müssen? Dass Englands Nationaltrainer einen Hochbegabten wie Jadon Sancho nicht mal in seinen Kader berief, sorgte schon kurz vor dem EM-Start für Verwunderung. Dass er sein Vertrauen lieber dem seit Monaten nach seiner Form suchenden Raheem Sterling schenkte, war ein Risiko. Doch nach Sterlings erlösendem Treffer zum 1:0-Sieg gegen Vize-Weltmeister Kroatien lächelte am Ende nicht nur Southgate vor Erleichterung, sondern eine ganze Nation. Englands gelungener Start in diese Europameisterschaft könnte gleichzeitig der Auftakt zu einem großen Sommer sein.
"Wir brauchten diesen Sieg", sagte Sterling nach dem Abpfiff. "Und wir haben zusammengehalten." Es dürfte auch ein erster Schritt gewesen sein, die eigenen Fans noch enger zusammenzuführen. Auch vor dem Kroatien-Spiel hatten in Wembley einige von ihnen gebuht, als die Spieler mit einem Knie auf den Boden gingen, um ihre Unterstützung im Kampf gegen Rassismus zu zeigen. Viele andere klatschten lautstark Beifall. Als Sterling in der 57. Minute den Siegtreffer erzielte, ging der Fußball-Tempel im Nordwesten Londons bei strahlendem Sonnenschein im kollektiven Jubel unter. Diese Bilder will Southgate schaffen: Umarmungen, Freude, Einigkeit.
"Wir haben so lange gewartet, bis die Biergärten wieder öffnen durften, und ich bin mir sicher, dass das Bier überall sowohl getrunken als auch durch die Gegend gespritzt wird", sagte der Coach. Der 50-Jährige hat einen wohl einzigartigen Sinn dafür, was die Menschen in England gerne hören und wie ihre Stimmung ist. "Doch der Sieg am Sonntag in Wembley hat damit zu tun, dass er die Stimmung der Nation ignoriert hat", schrieb "The Athletic". Southgate zog sein Ding durch mit einer Aufstellung, die viele Fans gerne anders gesehen hätten. Die Vorlage zu Sterlings Treffer gab übrigens Kalvin Phillips, der letztes Jahr noch in der 2. Liga gespielt hat.
"Alle Entscheidungen richtig getroffen"
Und so schwärmten die Medien vom 25 Jahre alten Mittelfeldspieler, die "Times" bezeichnete den Profi von Leeds United als "Yorkshire Pirlo". So viel erreicht wie der einstige Weltklasse-Stratege Andrea Pirlo hat Phillips zwar (noch) nicht, doch beim EM-Auftakt glänzten er und Sterling. Kurz vor Ende der Partie ging Southgate sogar noch mehr ins Risiko, als er inmitten der spannungsgeladenen Schlussphase seinen mit Abstand jüngsten Spieler einwechselte: Jude Bellingham von Borussia Dortmund kam in der 82. Minute im Alter von 17 Jahren und 349 Tagen aufs Feld, wodurch er nun der jüngste Spieler ist, der je bei einer Europameisterschaft zum Einsatz kam.
"Southgate musste einige schwere Entscheidungen treffen, aber er hat sie alle richtig getroffen", schrieb Englands früherer Stürmer Alan Shearer in seiner BBC-Kolumne. "An den Spielern, die nicht mal auf der Bank saßen, kann man sehen, wie stark wir sind." Sancho ist das beste Beispiel dafür. Ob der 21-Jährige für das nächste Spiel der Three Lions am Freitag gegen Schottland in den Kader zurückkehrt, bleibt abzuwarten.
Sicher ist: Southgate wird sich bei dieser Entscheidung nicht von der öffentlichen Meinung treiben lassen. Er wird nach dem Auftaktsieg auch nicht euphorisch. "Die Menschen können sich freuen und ihr Bier durch die Gegend spritzen, das ist großartig, dass wir ihnen diese Freude bereiten können", sagte er. "Aber wir müssen uns auf das nächste Spiel konzentrieren." Zum Fall Sancho sagte er: "Mir gefällt es selbst nicht, dass wir Spieler aus dem Kader streichen müssen. Wir können leider nur 23 Spieler benennen, das ist einfach unglücklich."
26 Spieler umfasst der Kader, drei müssen also am Spieltag weichen. Neben dem verletzten Abwehrchef Harry Maguire traf es beim 1:0 (0:0) gegen den Vizeweltmeister Ben Chilwell - und überraschend eben auch Sancho. "Wir mussten bestimmte Positionen abdecken", sagte Southgate, doch was den Ausschlag gegeben hatte, verriet der Teammanager nicht. Für die offensive Außenbahn entschied er sich für Marcus Rashford, Jack Grealish und Bukayo Saka, die allesamt auf der Bank Platz nahmen. Und Sancho? Der mühte sich zumindest, seine Enttäuschung zu verbergen. Auf der Tribüne klatschte er und feuerte sein Team an - doch der Anspruch des pfeilschnellen Offensivkünstlers ist ein ganz anderer.