Wirtschaft

Lösung der Wirtschaftskrise? "Die Bürokratiekosten halbieren den Gewinn"

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"Die Regelwut des Staates ist aus dem Ruder gelaufen", sagt Normenkontrollratschef Lutz Goebel.

"Die Regelwut des Staates ist aus dem Ruder gelaufen", sagt Normenkontrollratschef Lutz Goebel.

(Foto: picture alliance/dpa)

Überbordende Bürokratie ist eines der drängendsten Probleme der deutschen Wirtschaft. Deutschlands oberster Wächter für Bürokratieabbau, Lutz Goebel, erklärt im Interview mit ntv.de, wie sich die "Regelwut" vermeiden ließe, was das fürs Wirtschaftswachstum bedeuten würde und warum er optimistisch auf die künftige Bundesregierung blickt. Goebel ist geschäftsführender Gesellschafter des Maschinenbauers Henkelhausen und Vorsitzender des Nationalen Normenkontrollrats (NKR). Das unabhängige Expertengremium berät die Bundesregierung. Das Ziel: weniger Bürokratie, bessere Gesetze und eine digitale Verwaltung.

ntv.de: Sind Sie Fan von Elon Musk und seinem Anti-Bürokratie-Gremium DOGE?

Lutz Goebel: Nein, Bürokratieabbau mit der Kettensäge ist keine Option. Wir sollten nicht einmal darüber nachdenken, uns mit Musk, Milei und Co. zu vergleichen. Was aber durchaus stimmt, ist, dass es neue, ungewohnte Ansätze braucht, wenn wir Deutschland wieder wettbewerbsfähig machen wollen. Unser aktuelles Gutachten zur Aufgabenbündelung im Föderalstaat ist so ein Beispiel. Darin empfehlen wir eine Neustrukturierung der Verwaltungsprozesse, um die Staatsmodernisierung voranzutreiben - ohne dabei den Föderalismus aufzugeben, also ganz ohne Kettensäge.

Inwiefern könnte sich Deutschland also ein Vorbild an der neuen US-Regierung nehmen?

Bürokratie hat ihre Berechtigung. Die Leute sollen alle nach den gleichen Regeln spielen und gerecht behandelt werden, wir wollen niemanden übervorteilen. Das Ausmaß der Einzelfallgerechtigkeit und die Regelwut des Staates sind aber aus dem Ruder gelaufen und haben sich teilweise komplett verselbstständigt. Aber die Politik tut sich schwer damit, Gesetze wieder abzuschaffen, die sie selbst gemacht hat. Deshalb brauchen wir konkrete Vorgaben, zum Beispiel, wie viel Prozent in welchem Ministerium bis wann abgebaut werden müssen. Die Wirtschaft ist hier ein guter Ratgeber, sie weiß genau, welche Regelungen am meisten wehtun.

Sie sind selbst Unternehmer. Wie halten Sie Ihren eigenen Apparat schlank und an welchen Stellen lässt Sie der Staat nicht?

Ich habe das operative Geschäft an meine Tochter und einen weiteren Geschäftsführer übergeben und die beklagen sich gewaltig über die verpflichtende Nachhaltigkeitsberichterstattung, auf die wir uns vorbereiten. Die EU will die Regeln zwar neu formulieren, aber schauen wir mal, ob es dadurch wirklich einfacher wird. Auch im eigenen Unternehmen müssen wir regelmäßig an die Prozesse ran: Wir prüfen, wo es Doppelarbeit gibt, wo es einfacher und digitaler ginge. Der Staat macht diese Inventur leider nicht. Nirgendwo außer dort wächst das Personal einfach weiter. Das kann doch nicht sein.

Können Sie ein konkretes Beispiel für überflüssige Bürokratie für Unternehmen nennen?

Das deutsche Lieferkettengesetz. Kleine Unternehmen sind damit überfordert, nachzuweisen, woher sie ihre Produkte wie zum Beispiel Rohstoffe bekommen. Es wäre klüger, den Spieß umzudrehen: Dass sich Unternehmen, die etwas liefern, erst zertifizieren lassen. Außerdem sollte davon ausgegangen werden, dass es in OECD-Ländern keine Menschenrechtsverletzungen gibt. Helfen würden auch schon einheitliche Fragebögen. Wir bekommen von allen Kunden unterschiedliche Fragebögen, wie wir aufgestellt sind. Das kostet jedes Mal wahnsinnig viel Zeit.

Wie viel Geld kostet diese aus Ihrer Sicht vermeidbare Bürokratie?

Studien zeigen, dass die gesamten Bürokratielasten bei kleinen und mittleren Unternehmen bei drei Prozent vom Umsatz liegen, bei richtig großen Unternehmen ist es ein Prozent. Die Umsatzrendite liegt im Schnitt über die Jahre hinweg bei etwa drei Prozent. Das heißt, die Bürokratiekosten halbieren den Gewinn, das ist gewaltig.

Ohne Bürokratieaufwand würde unsere Wirtschaft also wachsen, statt seit Jahren zu stagnieren?

Genau. Wenn wir so digital und bürokratiearm aufgestellt wären wie Schweden und Dänemark, läge unser Wachstumspotenzial laut einer Ifo-Studie drei bis vier Prozent höher als aktuell. Das Spannende an Bürokratieabbau ist doch, dass er fast nichts kostet - ein Konjunkturprogramm zum Nulltarif. Wir würden unsere gesamte Wirtschaft zum Laufen bringen, ohne Staatsgeld zu brauchen, das momentan ohnehin knapp ist. Gleiches muss für die Verwaltung gelten. Die Kommunen sind praktisch nicht mehr in der Lage, die hochkomplexen Gesetze des Bundes umzusetzen. Der Staat ist zunehmend handlungsunfähig - und wir kommen überhaupt nicht voran.

Welche Rolle spielte dabei Wirtschaftsminister Robert Habeck?

Für den Bürokratieabbau hat das Wirtschaftsministerium einige sehr gute Dinge gemacht. Vor allem die Praxischecks: Mit Hilfe der Vollzugsebene und aller wichtigen Stakeholder schaut man sich ein Gesetz im Detail an, um bürokratische Hindernisse in der Praxis aufzudecken. Allein beim Ausbau von Windkraft- und Photovoltaik-Anlagen ist man auf 70 Hürden bei der Umsetzung gestoßen, von unbegrenzten Klagemöglichkeiten bis hin zu sieben Jahre langen Genehmigungsverfahren. Gesetze dürfen eben nicht nur von Juristinnen und Juristen geschrieben werden, sondern müssen von Anfang an mit der Praxis zusammen erarbeitet werden. Deshalb liegt in den Praxischecks enorm viel Potenzial.

Inzwischen herrscht parteiübergreifend Einigkeit, dass die hiesige Bürokratie entschlackt werden sollte. Viele Menschen haben allerdings das Gefühl, dass sie stattdessen immer weiter wächst. Stimmt das?

Nach etlichen Belastungsrekorden ist es der Bundesregierung zuletzt gelungen, den Bürokratieaufbau-Trend etwas zu bremsen. Gegenüber den Milliardenanstiegen vergangener Jahre hat sich der Aufwuchs beim laufenden Erfüllungsaufwand - also der Zeitaufwand und die Kosten, die neue Gesetze verursachen - verlangsamt. Insgesamt bleibt das Plateau, auf dem wir angekommen sind, aber viel zu hoch. Das hängt auch damit zusammen, dass über die Hälfte der Bürokratie aus EU-Vorgaben resultiert. Hinzu kommt weitere Bürokratie von ganz anderen, nicht staatlichen Seiten, etwa von Berufsgenossenschaften bis zu DIN-Normen. Alles in allem einfach viel zu viel.

Der Normenkontrollrat prüft doch bei neuen Gesetzen schon während deren Erarbeitung, ob sie sich auch mit weniger Bürokratie umsetzen ließen. Warum gelingt es dann nicht besser?

Dafür müsste die Vollzugsebene noch viel enger in den Gesetzgebungsprozess eingebunden werden. Schließlich ist sie es, die neue Gesetze später in die Praxis umsetzen muss. Beim Bundesbaugesetz zum Beispiel sind es auch Architekten und Planer, die man fragen muss. Auch der NKR müsste noch mehr gehört werden. Dafür sind die Fristen bis zur Kabinettsbefassung aber oft viel zu kurz. Wenn ein Gesetz zeitgleich an die Ministerien, Verbände und den NKR geht, bleiben teilweise nur drei, vier Tage, sich dazu zu äußern und Alternativvorschläge zu machen. Das ist viel zu wenig. Der NKR weist immer wieder darauf hin, aber die Gesetze werden trotzdem verabschiedet, wenn sie politisch gewollt sind. Erst hinterher fällt dann allen auf, dass sie zu bürokratisch sind und nachgearbeitet werden muss.

Und wie ließe sich bereits bestehende Bürokratie abbauen?

Bürokratieabbau sollte von der Bundesregierung zur Chefsache erklärt werden. Jedes Ministerium braucht klare Vorgaben, bis wann es wie viel Bürokratie abbauen muss. Die Ampel-Regierung hat mit der Wachstumsinitiative schon sehr gute Vorschläge für systematische Entlastungen gemacht, allen voran Justizminister Buschmann wollte bei dem Thema endlich vorankommen. Ein jährliches Bürokratieentlastungsgesetz, kein weiteres "Goldplating" bei der Umsetzung von EU-Recht - dass also Deutschland immer noch einen draufsattelt -, vermehrte Anwendung von Praxischecks und ein Bürokratieentlastungsportal - das waren wirklich gute Ansätze, die die nächste Bundesregierung unbedingt weiterverfolgen sollte. Der NKR schlägt darüber hinaus einen verbindlichen Bürokratieabbaupfad von 25 Prozent in vier Jahren vor - ein ambitioniertes, aber realistisches Ziel.

Woran scheitert dann die Umsetzung?

Am politischen Willen. Aber das ändert sich gerade spürbar. In vielen Parteiprogrammen steht, dass wir beim Bürokratieabbau und bei der Staatsmodernisierung entschieden weiterkommen müssen. Bürokratieabbau ist nicht gleichzusetzen mit dem Abbau von Standards. Das sind politische Entscheidungen. Wie sie umgesetzt werden, also der Bürokratieaufwand dahinter, ist eine ganz andere Frage. Der NKR hat zum Beispiel den Vorschlag gemacht, einen digitalen One-Stop-Shop für Sozialleistungen einzurichten, um die Kontaktpunkte zwischen Verwaltung und Anspruchsberechtigten für Sozialleistungen zu reduzieren. Das würde in der Sozialverwaltung neue Kapazitäten schaffen.

Mehr als die Hälfte der Bürokratie entsteht allerdings durch EU-Vorgaben, wie Sie gesagt haben. Andererseits braucht es für einen gemeinsamen Binnenmarkt auch gemeinsame Regeln. Wenn jeder Mitgliedstaat eigene hätte, gäbe es ja noch mehr Regeln.

Das stimmt, aber auch hier besteht Potenzial, Bürokratie abzubauen. Denn während die meisten Länder EU-Vorgaben nur eins zu eins umsetzen, verschärft Deutschland die Gesetze. Zur Wahrheit gehört auch, dass die Bundesregierung noch viel aktiver an die Kommission herantreten muss, um EU-Regulierung zurückhaltender, bürokratieärmer und zielgenauer zu gestalten.

Mit Lutz Goebel sprach Christina Lohner

Quelle: ntv.de

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