Die Hintertürchen Russlands Darum zieht die EU die Sanktionsschlinge weiter zu
24.02.2023, 16:38 Uhr Artikel anhören
Sogenannte Parallelimporte halten die russische Kriegswirtschaft am Laufen. Chips aus Waschmaschinen, Kühlschränken und Spülmaschinen werden in Panzern verwendet.
(Foto: picture alliance/dpa/Russian Defence Ministry)
Trotz scharfer Sanktionen gegen Russland finden westliche Waren immer noch ihren Weg in Putins Reich. Welche Umwege Kühlschränke, Waschmaschinen, PKW oder Halbleiter nehmen, zeigen Ausreißer in den Außenhandelsdaten von Staaten wie Armenien, Kirgisistan oder Kasachstan.
Es geht Schlag auf Schlag: Das neunte Sanktionspaket ist erst wenige Monate in Kraft, da gießt die EU bereits das zehnte Maßnahmenpaket gegen Russland in ihre Form. Diesmal im Fokus: sogenannte Parallelimporte über Drittländer. Während die Warenströme aus den USA und der EU nach Russland versiegt sind, boomen die in Länder, die die Maßnahmen gegen Russland nicht unterstützen. Der Haken dabei: Für die Waren scheint hier nicht Endstation zu sein. Ausreißer in Außenhandelsdaten legen nahe, dass ihre wirkliche Destination Russland ist.
Parallelimport ist ein technischer und rechtlicher Begriff für nicht-legale Importe. Unter Verdacht, als Hintertürchen für Russland zu dienen, durch das Nachschub ins Land gelangt, stehen Staaten wie Armenien und Kirgisistan. Sie gehören der gemeinsamen Währungsunion mit Russland an. Das heißt, Waren von dort können zollfrei importiert werden. Die Türkei, China und Indien scheinen ebenfalls eine Rolle bei der Versorgung des Putin-Staates mit Haushaltsartikeln, PKW, Halbleitern und Co. zu spielen, wie Veränderungen bei der Warennachfrage zeigen. Wirtschaftsminister Robert Habeck fand am Donnerstagabend deutliche Worte dafür: "Das ist kein Kavaliersdelikt. Wenn der Nachweis gelingt, dass es sich um eine bewusste Entscheidung handelt, wird es strafrechtlich relevant sein beziehungsweise verfolgt werden."
In einem Papier seines Ministerium hieß es zuvor, die Datenlage deute darauf hin, dass EU-sanktionierte Güter "in erheblichem Maß" aus der EU und damit auch aus Deutschland in bestimmte Drittländer ausgeführt und von dort nach Russland weiter exportiert werden. ntv und RTL berichteten als Erste über einen sogenannten 10-Punkte-Plan des Wirtschaftsministeriums. Ziel soll es sein, vorsätzliche Verstöße künftig möglichst europaweit unter Strafe zu stellen. Unternehmen soll nur noch dann der Export in bestimmte Drittstaaten ermöglicht werden, wenn sie im Rahmen der Ausfuhranmeldung transparente Endverbleibserklärungen abgeben.
Um welche Größenordnungen es geht, zeigt eine Analyse der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE). Die Exporte der EU, der USA und des Vereinigten Königreichs nach Russland sind demnach im Zeitraum Mai bis Juli 2022 zwar inflationsbereinigt um mehr als die Hälfte eingebrochen. Gleichzeitig sind die nach Armenien und Kirgisistan aber um mehr als 80 Prozent gestiegen.
Auffälligerweise haben sich die Ausfuhren der beiden Staaten nach Russland gleichzeitig mehr als verdoppelt. Die Bank schlussfolgert aus den Daten, dass Waren für Russland eine neue Route gefunden haben. Die "Financial Times" zitierte hierzu kürzlich den neu ernannten EU-Sanktionsbeauftragten David O'Sullivan mit den Worten: "Haben (diese Länder) plötzlich viele neue Bedürfnisse entwickelt und es bleibt alles dort, oder sickert etwas davon in der einen oder anderen Form nach Russland?" Als besonders problematisch wird im Westen die Versorgung Russlands mit Komponenten für die Rüstungs-, Energie- und Weltraumindustrie angesehen, weil sie die Kriegsmaschinerie von Kreml-Chef Wladimir Putin schmieren.
Russland gibt es ungern zu, aber das Land hängt am Tropf. Um die russische Wirtschaft abzuwürgen, ziehen die westlichen Verbündeten die Sanktionsschlinge sukzessive zu. Mehr als 1000 ausländische Firmen haben Russland Informationen der US-Universität Yale zufolge seit dem Einmarsch in die Ukraine verlassen. Der Nachschub vieler Produkte stockt. Nicht nur Bauteile für die russische Armee sind mittlerweile Mangelware. Der Bevölkerung fehlt es auch an liebgewonnenen Konsumgütern
Kreml sucht Schlupflöcher - und findet sie
Kühlschränken und Waschmaschinen kommt hier eine besondere Bedeutung zu. Eurostat-Daten von Ende vergangenen Jahres zeigen, wie sich die Warenströme verändert haben. Allein in den ersten acht Monaten 2022 importierte Armenien demnach mehr Waschmaschinen aus der EU als 2020 und 2021 zusammen. Auch in Kasachstan gab es offenbar einen akuten Waschmaschinenmangel. Allein im April 2022 wurden fast sechsmal so viele Waschmaschinen aus der EU gekauft wie ein Jahr zuvor..
Kühlschränke waren offenbar ebenfalls plötzlich schwer gefragt: Bis einschließlich August vergangenen Jahres importierte der zentralasiatische Riesenstaat mehr als dreimal so viel wie von Januar bis August 2021. Dass die Importe an Haushaltswaren so exorbitant zugenommen haben, hat jedoch weniger mit Wäschebergen und einer zunehmenden Nachfrage nach verderblicher Kost zu tun. Vielmehr werden die Haushaltsgeräte, wenn sie in Russland angekommen sind, ausgeschlachtet. In ihnen sind Chips verbaut, die die Armee für Drohnen, Panzer und Raketen nutzen kann.
Parallelimporte erfolgen im Grunde über zwei Wege: Entweder über Privatpersonen aus Russland, indem sie das, was im Land benötigt oder gewünscht wird, in den Nachbarstaaten in Zentralasien oder dem Kaukasus einkaufen und es dann, zurück in Russland, zu einem höheren Preis anbieten. Oder es sind professionelle Händler am Werk, die im großen Stil Containerladungen an Produkten einkaufen, die sich später auf russischen Online-Verkaufsplattformen wiederfinden lassen. Die Duma, das russische Parlament, hat Importe durch die Hintertür bereits in den ersten Kriegstagen ausdrücklich erlaubt. Auf einer Liste des Moskauer Handelsministeriums stehen laut "FT" hunderte Marken, deren Einfuhr über ein anderes Land legal ist. Darunter Mercedes, Volkswagen, Tesla, Miele, Philips, Apple und Samsung.
Die westlichen Verbündeten wollen das nach einem Jahr Ukraine-Krieg nicht mehr ungeahndet lassen. Die Drittländer müssen Profit, Gefahren und Konsequenzen für sich abgwägen. Wenn sie weiter als Drehscheibe für Waren mit Destination Russland fungieren, könnten sie auf der Sanktionsliste landen. Es wäre ein schlechter Tausch. Die Märkte in den USA und Europa sind wichtiger als der russische.
Insidern zufolge wollen die Vertreter der Mitgliedstaaten der EU die Verhandlungen über das zehnte Sanktionspaket noch an diesem Freitag - dem Jahrestag des russischen Einmarsches in die Ukraine - abschließen. Bis auf ein Detail sei man sich bereits einig, hieß es am Vortag. Die zusätzlichen Handelsbeschränkungen gegen Moskau werden früheren Angaben von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zufolge insbesondere Exporte industrieller Güter betreffen, die die russische Industrie dann nicht mehr über Drittstaaten beziehen kann.
Dazu zählen demnach Maschinenteile, Antennen, Kräne, Spezialfahrzeuge sowie Ersatzteile für LKW und Triebwerke. Zudem soll es Export-Restriktionen für rund 50 neue elektronische Bauteile geben, die für russische Waffensysteme sowie Drohnen, Raketen und Hubschrauber verwendet werden können.
Quelle: ntv.de, Grafiken von Laura Stresing