Der "Zinsfeind" hat ein Problem Die Inflation ist Erdogans Endgegner


Erdogan liegt in den Umfragen zurück.
(Foto: REUTERS)
Die Währung stürzt ab, die Inflation schießt nach oben. Die Türkei steckt in einer tiefen Wirtschaftskrise. Das kann Präsident Erdogan die Wiederwahl kosten.
Recep Tayyip Erdogan hat es im Kampf um die türkische Präsidentschaft mit zwei hartnäckigen Gegnern zu tun. Der eine ist Kemal Kilicdaroglu - der Oppositionskandidat, der in Umfragen vorne liegt. Der andere ist die extrem hohe Inflation.
Erdogan drohen die Konsequenzen seiner auf Pump finanzierten und auf billiges Geld setzenden Wirtschaftspolitik um die Ohren zu fliegen. "In der Vergangenheit konnte Erdogan seinen Anhängern viel bieten, aber die Wirtschaftskrise hat ihm geschadet", sagt Seda Demiralp, Vorsitzende der Abteilung für internationale Beziehungen an der Isik-Universität in Istanbul. "Seine Anhänger mögen ihn immer noch, sie lieben ihn sogar. Aber sie sind unglücklich darüber, dass sie den Preis dafür zahlen müssen." Viele Wähler machen Erdogan für die wirtschaftliche Misere im Land verantwortlich - und das könnte Erdogan bei der morgigen Wahl die entscheidenden Stimmen kosten.
Erdogan ist seit 2014 Präsident des Landes, vorher war er rund zehn Jahre Premierminister. In dieser Zeit erlebte die Türkei zunächst einen jahrelangen Wirtschaftsboom. Das Land profitierte von der ultra-lockeren Geldpolitik der westlichen Notenbanken, mit der sie auf die Finanzkrise reagierten. Investoren suchten anderswo nach Rendite und fanden sie in Schwellenländern wie der Türkei. Sowohl Staat als auch Unternehmen nutzten die Gelegenheit, sich günstig zu verschulden. Die Folge war ein üppiges Wirtschaftswachstum, das allerdings auch die Inflation ankurbelte.
Als in den USA die Zinsen wieder stiegen, floss Geld aus den Schwellenländern in den Dollarraum. Ab 2013 begannen ausländische Investoren, sich aus türkischen Anlagen zurückzuziehen. Eine Folge ist, dass die türkische Lira unter erheblichen Druck geriet. Zugleich vergrößerten sich das Leistungsbilanz- und das Haushaltsdefizit massiv. Um den Fehlbetrag zu finanzieren, ist die Türkei auf das Geld ausländischer Investoren angewiesen - doch diese verlangen immer höhere Zinsen. Die Türkei schlitterte in eine Wirtschaftskrise.
Schließlich stürzte die Lira regelrecht ab. Sie hat in den vergangenen fünf Jahren zum Dollar rund 80 Prozent an Wert verloren. Das ist alleine schon deshalb ein Problem, weil das rohstoffarme Land stark auf Importe angewiesen ist, die durch die Lira-Abwertung immer teurer werden.
"Mutter allen Übels"
Die Inflation erreichte schwindelerregende Höhen. Sie lag im vergangenen Jahr zeitweise bei mehr als 85 Prozent. Damit hatten sich die Verbraucherpreise innerhalb eines Jahres fast verdoppelt und die Inflation den höchsten Stand seit 24 Jahren erreicht. Der wesentliche Grund dafür war, dass die Notenbank trotz hoher Inflation Erdogans Wunsch nach niedrigen Zinsen erfüllte. Der immer autoritärer herrschende türkische Präsident hatte sich die offiziell unabhängige Zentralbank gefügig gemacht, indem er nacheinander drei Chefs rauswarf, bis er einen Gouverneur fand, der nach seiner Pfeife tanzt.
Der Hintergrund: Erdogan sieht in Zinsen die "Mutter allen Übels" und behauptet, dass hohe Zinsen für eine hohe Inflation sorgen und niedrige Zinsen für eine niedrige Inflation. Das widerspricht zwar der ökonomischen Lehre. Doch niedrige Zinsen sind gut für die Konjunktur - und damit für die Popularität Erdogans. Der Präsident setzte darauf, dass die hohe Inflation vorübergehend und damit nur ein Kollateralschaden auf dem Weg zu seiner Wiederwahl sei. Doch diese Wette könnte gründlich schiefgehen und Erdogan sein Amt kosten.
Das letzte Mal, dass die jährliche Inflationsrate das offizielle Ziel von fünf Prozent erreichte, war 2011. Damals begann auch der international anerkannte Gini-Index, der die Ungleichheit bei Einkommens- und Vermögensverteilung misst, zu steigen. Dieser Trend beschleunigte sich 2013. Die britische Denkfabrik Legantum Institute stuft die Türkei in ihrem Wohlstandsindex weltweit auf Platz 95 ein, womit sich das Land seit 2011 um 23 Plätze verschlechtert hat.
Mittlerweile liegt die Inflation im Land nur noch bei rund 44 Prozent. Doch es ist durchaus wahrscheinlich, dass die Inflation in Wirklichkeit noch höher ist. Oppositionspolitiker, Ökonomen und Finanz-Analysten werfen der Regierung vor, die Zahlen zu frisieren. Erdogan hatte den Leiter der Statistikbehörde im vergangenen Jahr gefeuert und ihm vorgeworfen, er habe das Ausmaß der Inflation übertrieben dargestellt.
Proteste und Putsch überstanden
Erdogans AK-Partei (AKP) war 2002 an die Macht gekommen, als sich die Wirtschaft von ihrem schlimmsten Einbruch seit den 1970er Jahren erholte. Er punktete mit dem Versprechen, mit der jahrelangen Misswirtschaft zu brechen. Als Ministerpräsident kam ihm anfangs zugute, dass die vom Internationalen Währungsfonds (IWF) auferlegten Sparmaßnahmen nachließen. Es folgte ein Jahrzehnt des wachsenden Wohlstands mit sinkender Armut und Arbeitslosigkeit. Auch die Inflationsrate, die ein Jahrzehnt zuvor dreistellig war, sank.
Erdogan schien unantastbar. Doch das änderte sich 2013, als die Proteste rund um den Istanbuler Gezi-Park das Land erfassten und zu zahlreichen Zusammenstößen, Verhaftungen und Inhaftierungen führten. Gleichzeitig verlor der Wirtschaftsboom an Fahrt.
Der von Teilen des Militärs verübte Putschversuch von 2016 führte zu einem Ausnahmezustand. Dieser habe "Erdogans personalistische Herrschaft formalisiert, die von einer Reihe unterwürfiger Berater mit fragwürdigen Referenzen unterstützt wird", sagt Ates Altinordu, Assistenzprofessor für Soziologie an der Sabanci Universität. "Das Zusammentreffen dieser Faktoren schuf den perfekten politischen Sturm für wirtschaftliches Versagen."
In den vergangenen zehn Jahren haben sich die politischen Spaltungen im Land verschärft, nachdem sich Erdogan nationalistischen Verbündeten zugewendet hatte, um sich parlamentarische Mehrheiten zu sichern. Später gewann er ein knappes Referendum über die Einführung des Präsidialsystems, das die Macht in seinem Palast konzentriert. Einige wichtige Wirtschaftsfunktionäre verließen die AKP aus Protest dagegen.
"Jeder erinnert sich an die frühe Erdogan-Regierung, als es hieß, er würde eine integrative Wirtschaft schaffen", sagt Bülent Gultekin, ein ehemaliger türkischer Zentralbankgouverneur und außerordentlicher Professor an der Wharton University. "Aber in Wirklichkeit hat sie noch nie dagewesene Teile der Gesellschaft vollständig von der Regierung abhängig gemacht, und das ist unhaltbar." Sollte Erdogan die Wahl gewinnen und seine Wirtschaftspolitik fortsetzen, werde es irgendwann zu einem kompletten Crash kommen. Gultekin warnt: "Du kannst Dinge für eine Weile verschieben, aber irgendwann musst du die Rechnung bezahlen."
Quelle: ntv.de, mit rts