Hohe Inflation vor der Wahl Erdogans Wirtschaftsmodell "wird in die Luft fliegen"


Recep Tayyip Erdogan will Präsident bleiben.
(Foto: REUTERS)
Die Türkei leidet unter heftiger Inflation. Für die Preissteigerung ist auch Präsident Erdogan verantwortlich, der einen ungewöhnlichen ökonomischen Ansatz verfolgt. Das könnte ihn den Sieg bei den nahenden Wahlen kosten.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat zwei Gegner, die seine Wiederwahl im Mai vereiteln können: Oppositionskandidat Kemal Kilicdaroglu ist der eine, die hohe Inflation der andere.
Umfragen sagen ein Kopf-an-Kopf-Rennen bei den Präsidentschaftswahlen voraus, auch die gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen könnte das oppositionelle Bündnis aus sechs Parteien gewinnen - und das, obwohl Regierungsgegner im Gefängnis sitzen und ein Großteil der Medien unter Kontrolle Erdogans steht.
Eine Niederlage des Staatschefs wäre eine Zäsur. Es ist der mächtigste Politiker seit Mustafa Kemal Atatürk, der die türkische Republik vor 100 Jahren gegründet hat. Vor fünf Jahren führte Erdogan per Volksentscheid das Präsidialsystem ein, das ihm weitreichende Befugnisse gibt.
Die Wahl findet vor dem Hintergrund des verheerenden Erdbebens statt. Die am stärksten betroffenen Regionen sind Hochburgen von Erdogans Partei AKP. Durch die Naturkatastrophe sind in der Türkei Zehntausende Menschen ums Leben gekommen, Millionen wurden obdachlos. Der Regierung wird vorgeworfen, bei der Erdbebenhilfe versagt und vorher Baumängel geduldet zu haben.
Vor diesem Hintergrund könnte die galoppierende Inflation Erdogan die entscheidenden Stimmen kosten. Wegen der heftigen Preissteigerung können sich immer mehr Türken immer weniger leisten. Preistreiber bleiben vor allem Nahrungsmittel. Das macht Erdogan unpopulärer.
Chef-Statistiker und Notenbanker gefeuert
Offiziellen Angaben zufolge lag die Inflation im März bei etwas mehr als 50 Prozent. Im vergangenen Oktober hatte sie mit über 85 Prozent das höchste Niveau seit 24 Jahren erreicht. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass die Inflation in Wirklichkeit noch höher ist. Oppositionspolitiker, Ökonomen und Finanz-Analysten werfen der Regierung vor, die Zahlen zu frisieren. Erdogan hatte den Leiter der Statistikbehörde im vergangenen Jahr gefeuert und ihm vorgeworfen, er habe das Ausmaß der Inflation übertrieben dargestellt.
Zweifel an der offiziellen Inflationsrate säen etwa die Zahlen, die von der Handelskammer in Istanbul veröffentlicht werden. Die Lebenshaltungskosten in der Millionenstadt stiegen demzufolge im März um rund 73 Prozent. Die in Istanbul ansässige unabhängige Inflations-Forschungsgruppe ENAG beziffert die Teuerung landesweit auf etwas mehr als 112 Prozent. Beide Zahlen sind deutlich höher als die offiziellen 50 Prozent.
Ein Grund für die heftige Inflation ist Erdogan selbst. Der Präsident hat sich die - formal unabhängige - Zentralbank gefügig gemacht, indem er nacheinander drei Chefs rauswarf, bis er einen Gouverneur fand, der seinen Wunsch von niedrigeren Zinsen erfüllte. Erdogan sieht in Zinsen die "Mutter allen Übels" und behauptet, dass hohe Zinsen für eine hohe Inflation sorgen und niedrige Zinsen für eine niedrige Inflation.
Das widerspricht der ökonomischen Lehre. Während in den USA und Europa Zentralbanken versuchen, mit höheren Zinsen die Inflation in den Griff zu bekommen, verfolgt die türkische Notenbank eine lockere Geldpolitik.
Niedrige Zinsen sorgen tendenziell für höheres Wirtschaftswachstum, da günstigere Kredite Konsum und Investitionen billiger machen. Außerdem tragen niedrige Zinsen dazu bei, dass die heimische Währung an Wert verliert. Davon profitiert die Exportindustrie, da ihre Produkte auf dem Weltmarkt günstiger werden. Für die vom Tourismus geprägte Türkei kommt hinzu, dass Urlaub in dem Land durch eine schwache Währung attraktiver wird.
Wahlkampfgeschenke sollen helfen
Erdogan möchte vermeiden, dass die Konjunktur durch höhere Zinsen ausgebremst wird. Denn das könnte seine Siegeschancen verringern. Doch die Inflation, befeuert durch eine abstürzende Lira, könnte ihm einen Strich durch die Rechnung machen. Die Landeswährung hatte 2021 zur Talfahrt angesetzt, als viele Investoren begannen, angesichts unsicherer Wirtschaftsaussichten ihr Geld aus der Türkei abzuziehen. Die Lira verlor seitdem zum Dollar knapp 80 Prozent an Wert. In diesem Februar erreichte sie dann nach dem schweren Erdbeben einen weiteren Tiefstand. Das heizt die Inflation an, weil dadurch Importe - etwa Rohstoffe - teurer werden.
Auch das Handelsdefizit der Türkei weitet sich aus. Nach Angaben des Handelsministeriums übertrafen die Einfuhren im vergangenen Jahr die Ausfuhren um 110 Milliarden Dollar - im Vergleich zu 2021 ist das ein Anstieg von 138 Prozent.
Die türkische Wirtschaft wuchs im vergangenen Jahr offiziellen Angaben zufolge um 5,6 Prozent. Das ist deutlich stärker als die 2,3 Prozent, die im Schnitt von den G7-Mitgliedern, einer Gruppe von führenden Industrieländern, erzielt wurden. Das Wachstum wurde allerdings zum Großteil vom Konsum getragen, der rund 60 Prozent der Wirtschaftsleistung ausmacht. In Zeiten rasanter Inflation geben Verbraucher oft ihr Geld schnell aus und legen es nicht zurück, weil es schnell an Wert verliert.
Nachhaltig ist das nicht. Erdogans Wachstumsmodell - niedrige Zinsen, billige Kredite, schwache Währung - hat offenbar seine Grenzen erreicht. Vor diesem Hintergrund hat die türkische Regierung den Mindestlohn mehrfach erhöht. Außerdem soll der Mittelschicht der Kauf von Wohneigentum durch sehr günstige Kredite mit langen Laufzeiten erleichtert werden. Die Mindestrente wurde heraufgesetzt, das Mindestalter für die Rente abgeschafft - damit können mehr als zwei Millionen Türken sofort in den Ruhestand treten. Außerdem übernahm die Regierung einen Teil der Energierechnungen für Privatleute und Unternehmen.
Damit werde allerdings nur Zeit gekauft, sagte Selva Demiralp von der Istanbuler Koc University dem "Economist". Die Regierung "versucht, das derzeitige System bis zu den Wahlen aufrechtzuerhalten, bevor es in die Luft fliegt."
Quelle: ntv.de