Fast-Fashion-Gigant am PrangerWer ist der unsichtbare Milliardär hinter dem Ramsch-Riesen Shein?

Er hat einen globalen Milliardenkonzern aufgebaut, ohne je ins Rampenlicht zu treten. Es gibt keine Fotos von ihm und keine Interviews. Nicht einmal seine Mitarbeiter erkennen ihn. Doch die Tage, in denen sich der Shein-Gründer im Schatten bewegen kann, dürften gezählt sein.
Shein-Gründer Xu Yangtian, auch bekannt als Chris oder Sky Xu, ist ein Meister des Versteckspiels. Als die amerikanische Unternehmensberaterin Frances Townsend ihn an einem Besuchstag durch die Firmenzentrale in Guangzhou begleitet, kommt es zu einer bemerkenswerten Szene: Niemand beachtet den Mann, der das milliardenschwere Fast-Fashion-Imperium aufgebaut hat - und der der Grund ist, weshalb alle hier sind.
Xu, der unscheinbar gekleidet ist und keinerlei Attitüde eines CEOs an den Tag legt, wird schlicht übersehen. "Das ist nicht unsere Kultur", erklärt er der Besucherin, wie die dem "Wall Street Journal" später berichtet. Eine beiläufige Bemerkung, die sein unternehmerisches Prinzip auf den Punkt bringt: maximale Wirkung bei minimaler Sichtbarkeit. Während der von ihm gegründete Konzern laut, schrill und omnipräsent ist, ist der Mann dahinter das genaue Gegenteil.
Xu gibt keine Interviews und absolviert keine öffentlichen Auftritte. Es gibt auch kein offizielles Foto von ihm. In sozialen Medien taucht immer wieder dasselbe Bild auf, dessen Herkunft sich nicht bestimmen lässt. Auch Hu Jianlong, der Gründer der chinesischen Unternehmensberatung Brands Factory, beschreibt Xu als "extrem zurückhaltend" – als jemanden, der lieber inkognito in der Firmenkantine isst und in der Menge untertaucht, als auf einer Bühne im Scheinwerferlicht zu stehen. Seit 2022 übernimmt daher Donald Tang, ein erfahrener US-Manager, die öffentlichen Aufgaben, während Xu selbst im Schatten bleibt.
Vom Fabrikarbeiter-Sohn zum Milliardär
Geboren 1984 in Zibo, einer Industriestadt in der Provinz Shandong, wächst Xu als Sohn von Fabrikarbeitern auf. Er studiert internationalen Handel in Qingdao und verkauft bereits während seines Studiums alles, was sich online vertreiben lässt. Wichtiger als die Produkte ist für ihn schon damals das Prinzip: erst die Nachfrage analysieren, dann produzieren.
2008 gründet Xu mit Partnern ein E-Commerce-Unternehmen in Nanjing - die Keimzelle von Shein. Drei Jahre später folgt die Plattform SheInside, zunächst ein Nischen-Shop für Brautmode. Doch Xu erkennt schneller als die Konkurrenz, wie Social Media Modetrends in Echtzeit erzeugt. Er baut ein System, das Millionen Posts auf Instagram oder Tiktok analysiert, Designs blitzschnell kopiert und über Tausende kleinere Fabriken produzieren lässt. Er hebt damit Fast Fashion auf ein ganz neues Level: Es entsteht ein digitales Modefließband, das innerhalb weniger Tage Ware an Kundinnen und Kunden in aller Welt liefert.
Was der ebenfalls öffentlichkeitsscheue Gründer der Modekette Zara, Amancio Ortega, in den 70er Jahren mit "Fast Fashion" erfand - nur mit einem stationären Ansatz -, radikalisiert Xu zur logistischen Perfektion. Ein On-Demand-Billiglabel, das weltweit nahezu konkurrenzlos ist. Der ehemalige Amazon-Berater Brittain Ladd fasst es in der "Financial Times" so zusammen: "Xu hat die Agilität der Lieferkette zur strategischen Waffe gemacht."
Die Shein-App hat heute Hunderte Millionen Nutzerinnen und Nutzer – hauptsächlich in den USA und Europa. Auch erste Gehversuche im stationären Handel sind erfolgreich. Als Shein Anfang des Monats in Paris seine weltweit erste Verkaufsfläche im schicken Kaufhaus Bazar de l'Hôtel de Ville (BHV) eröffnet, rennen Kunden Shein die Bude ein. Bis zu 10.000 Besucher zählt das Geschäft angeblich täglich. Bloomberg schätzt Xus Vermögen auf 19,5 Milliarden US-Dollar – eine Zahl, die Shein bestreitet, ohne eine andere zu nennen.
Kritik, Ermittlungen – und eine politische Flucht
Je größer Shein wird, desto stärker gerät der Konzern aber auch unter Beschuss. Menschenrechtsorganisationen kritisieren miserable Bedingungen und mögliche Zwangsarbeit bei der Produktion. Stichproben durch Greenpeace ergaben extrem gefährliche Chemikalien in Kleidungsstücken des Onlinehändlers. In Frankreich laufen Ermittlungen wegen des Verkaufs sexuell anstößiger Puppen. Zudem plant die EU möglichst schon für 2026 die Abschaffung der Zollfreiheit für Billigimporte. Bisher gilt eine Freigrenze von 150 Euro - ein massiver Schlag für Plattformen wie Shein und Temu. Und Xu? Er schweigt zu alldem. So wie immer.
Ein möglicher Grund ist, dass in China in den vergangenen Jahren mehrere prominente Unternehmer in politische Ungnade gefallen sind. Alibaba-Gründer Jack Ma verschwand beispielsweise monatelang aus der Öffentlichkeit, nachdem er Peking kritisiert hatte. "Fortune" schreibt: "Chinesische CEOs nehmen sich bewusst zurück, um nicht ins Visier der Partei zu geraten." Xu hat diese Botschaft offenbar klar verstanden. Im Jahr 2022 verlegt er den Hauptsitz nach Singapur - geografisch näher an westlichen Investoren, politisch weiter entfernt von Peking.
Das Ende der Unsichtbarkeit?
In Zukunft könnte es für Xu jedoch schwieriger werden, unsichtbar zu bleiben. Shein plant einen Börsengang. Nicht mehr in London oder den USA. Beide Optionen sind vom Tisch. Stattdessen setzt der Konzern nun auf Hongkong, wo Berichten zufolge bereits ein offizieller Antrag vorliegt. Der Schritt ist strategisch: Ohne die stillschweigende Zustimmung Pekings wäre ein Börsengang für ein Unternehmen mit so engen chinesischen Lieferketten kaum möglich.
Eines ändert der Ort jedoch nicht: Ein Börsengang verlangt Transparenz. Er verlangt Gesichter. Und er verlangt einen Gründer, der Verantwortung sichtbar trägt. Für Xu stellt sich damit eine Frage, die er in seiner gesamten Karriere erfolgreich umgangen hat: Kann ein Mann, der ein globales Milliardenimperium aufgebaut hat, weiterhin unsichtbar bleiben?
Xu wollte nie im Rampenlicht stehen. Doch sein Unternehmen ist inzwischen zu groß geworden, um unauffällig geführt zu werden. Es gibt noch keinen konkreten Termin für einen Börsengang. Ziel war es Berichten zufolge aber zumindest einmal, ihn im Laufe des Jahres 2025 durchzuführen. Die kommenden Monate werden zeigen, ob der Meister des Versteckspiels dann seine Maske fallen lassen muss – oder ob er es möglicherweise schafft, selbst in den grellen Neonlichtern Hongkongs unterzutauchen.