Mikrochips in Raketen Wie westliche Technik Russlands Krieg befeuert


Bei der Attacke im März kamen ukrainischen Angaben zufolge 23 Menschen ums Leben.
(Foto: via REUTERS)
Fast zwei Jahre nach Kriegsbeginn landen westliche Komponenten über hunderte Tarnfirmen weiter in den Panzern und Raketen, mit denen Putin die Ukraine terrorisiert. Das EU-Waffenembargo versagt: Die russischen Geheimdienste spielen mit Europa Katz und Maus.
Der Marschflugkörper, der am 28. April in einen Wohnblock in der ukrainischen Kleinstadt Uman einschlug, unterschied sich kaum von den Tausenden anderen Raketen, mit denen Wladimir Putin seit Beginn seines Überfalls auf die Ukraine die zivile Infrastruktur des Landes beschießt. Die Angriffswelle mit fast zwei Dutzend Geschossen, abgefeuert von strategischen Bombern über dem Kaspischen Meer, tötete laut ukrainischen Angaben 23 Menschen. Im Morgengrauen in ihren Betten, darunter vier Kinder.
Die fliegende Bombe vom Typ Kh-101, NATO-Codename "Kodiak", die an diesem Morgen mit 450 Kilogramm Sprengstoff einen Teil des neunstöckigen Hauses Hunderte Kilometer hinter der Front dem Erdboden gleichmachte, hätte ihr Ziel jedoch nicht ohne ein entscheidendes Bauteil treffen können. Die Chips im Bordcomputer, der die tödliche Fracht in ihr Ziel lenkte, stammten laut Recherchen der "FAS" nicht etwa aus einer russischen Waffenschmiede. Sondern vom deutschen Hersteller Infineon. Auf Anfrage der "FAS" bedauerte Infineon-Chef Jochen Hanebeck, dass einige seiner Chips trotz Sanktionen nach Russland gelangt sein könnten. Sein Konzern könne jedoch nichts dafür: Gleich nach Putins Überfall habe man sich aus dem russischen Markt verabschiedet - und die heutigen Lieferketten könne man nicht komplett nachvollziehen.
Immer wieder trifft das russische Militär mit solchen Waffen Kraftwerke, Einkaufszentren und Wohnhäuser in der Ukraine. Und auch fast zwei Jahre nach Putins Überfall wird die Zivilbevölkerung des Landes weiter mithilfe amerikanischer, europäischer und deutscher Hochtechnologie terrorisiert. Denn trotz zahlloser Sanktionsrunden gelangen Mikrochips und andere Dual-Use-Güter aus westlicher Produktion weiter ungehindert in Putins Reich. Ohne diesen beständigen Nachschub kritischer Bauteile könnte die russische Kriegsmaschine nicht die Panzer, Marschflugkörper und Drohnen liefern, die der Kreml braucht. Könnte der Westen die Lieferwege kappen, wäre der Krieg schnell vorbei. Doch Europa und die USA finden kein echtes Mittel gegen den geheimen Schmuggel.
Raketenterror mit westlicher Hochtechnologie
"Das ist alles importiert. Außer der Montage, den Markierungen und den Seriennummern gibt es hier nichts Russisches", zitiert die "Deutsche Welle" in einem Beitrag mit Blick auf den "Kodiak"-Bordcomputer den Leiter einer ukrainischen Militäreinheit, die die Bauteile abgeschossener russischer Raketen analysiert. Die Russen wüssten, dass man sie beobachte, sagt der Mann und hätten "damit begonnen, die Seriennummern aus den Chips herauszufeilen", um die Lieferwege zu verschleiern.
Im "Kodiak", einem der modernsten russischen Marschflugkörper, steckt laut "FAZ" und dem britischen Thinktank RUSI nicht nur Elektronik von Infineon und seiner US-Tochter Cypress. Sondern auch ein Intel-Prozessor und Chipsätze von Analog Devices, Texas Instruments und Xilinx. RUSI hat insgesamt 450 westliche Komponenten in den modernsten Waffen des Kreml ausgemacht - von Marschflugkörpern über Radaranlagen bis zu Navigationssystemen.
Die westlichen Mikrochips sind für die meisten russischen Waffen schon seit dem Kalten Krieg unverzichtbar. Statt eine eigene Halbleiterindustrie aufzubauen, hat Russland schon zu Sowjetzeiten die strategische Entscheidung getroffen, westliche Mikrochiptechnik zu stehlen und Exportkontrollen über Mittelsmänner zu umgehen - die Komponenten also faktisch einzuschmuggeln. Im KGB gab es dafür sogar eine eigene Abteilung - "Linie X". Welchen Stellenwert die Beschaffung westlicher Bauteile noch heute in der russischen Militärdoktrin hat, zeigt eine Personalie: Sergej Tschemesow, Chef des größten russischen Rüstungskonzerns Rostec, ist ein alter Weggefährte von Wladimir Putin. In den 80er-Jahren dienten sie gemeinsam im KGB-Büro in Dresden.
Allein im ersten Halbjahr importierte Russland laut dem unabhängigen russischen Online-Medium "Verstka" westliche Mikrochips im Wert von mehr als 500 Millionen Dollar. Die russischen Investigativjournalisten haben dafür geheime russische Zolldaten ausgewertet. Der größte Teil der Komponenten stammte demnach von den US-Herstellern Intel (169 Mio. Dollar), Analog Devices (98 Mio. Dollar) und Xilinx (75 Mio. Dollar), gefolgt von Microchip Technology (42 Mio. Dollar), Texas Instruments (38 Mio. Dollar) und Infineon (28 Mio. Dollar).
Russische Agenten kaufen mitten in Europa ein
US-Firmen und der deutsche Chipriese sind damit mitten im Krieg die wichtigsten Lieferanten der russischen Rüstungsindustrie. Laut der Kiev School of Economics haben die Importe schon fast wieder Vorkriegsniveau erreicht. Denn auch wenn der direkte Verkauf der Elektronik nach Russland natürlich verboten ist: über Ex-Sowjetrepubliken wie Kasachstan, Tadschikistan und andere Drittstaaten wie die Vereinigten Arabischen Emirate umgeht Moskau mühelos das Waffenembargo. Hunderte Tarnfirmen sind im Geschäft.
Der weitaus größte Teil der Lieferungen läuft über China. Laut "Verstka" sitzen die drei größten Importeure von Intel-Chips alle in Hongkong. Von den 25 größten Importeuren für Mikrochips nach Russland haben demnach 11 direkte Lieferbeziehungen mit Rüstungsfirmen. Solange die Hersteller in Europa und den USA an nicht-sanktionierte chinesische Händler liefern, verstoßen sie nicht gegen das westliche Embargo. Viele dürften noch nicht einmal wissen, dass ihre Produkte am Ende in russischen Drohnen und Raketen landen. Doch nicht von allen westlichen Firmen kann man das sagen.
"Was weniger beachtet wird, ist, wie russische Beschaffungsnetzwerke oft kleinere, spezialisierte Firmen in Europa ins Visier nehmen, um Highend-Ausrüstung zu erwerben, die man nicht einfach woanders beziehen kann", schreibt das RUSI. Für russische Geheimdienste sind Chip- und Spezialfirmen schon seit Sowjetzeiten Primärziele. Daran hat sich auch nach dem Fall der Mauer nichts geändert. Und erst recht nicht mit dem Überfall auf die Ukraine.
Nur selten gelingt es den Geheimdiensten, die Operationen von Putins Agenten zu durchkreuzen. Der französische Geschäftsmann Marc R. etwa war bis zu seiner Anklage im März Chef des französischen Halbleiterherstellers Ommic. Zum Verhängnis wurde ihm offenbar ein Foto auf einer Yacht im Mittelmeer. Darauf zu sehen ist laut "Financial Times" ein Mann, von dem R. später behauptete, er kenne ihn nur unter seinem Vornamen "Maxim". Maxim Ermakov soll laut der Zeitung R. die Spezial-Platinen von Ommic abgekauft haben, die etwa in französischen Panzern und Jagdflugzeugen verbaut werden - für Istok, eine Tochter des russischen Rüstungskonzerns Rostec, die etwa Radarstörgeräte herstellt.
Inzwischen ist Ommic geschlossen, Maxim Ermakov steht auf der EU-Sanktionsliste und französische Staatsanwälte ermitteln laut "Le Parisien" gegen R. wegen "Weitergabe von Verfahren, Dokumenten oder Dateien an eine ausländische Macht, die geeignet sind, den grundlegenden Interessen der Nation zu schaden". Offiziell geht es um den Verdacht auf illegale Exporte, Untreue und Urkundenfälschung. Der Zeitung zufolge soll R. diverse Umgehungsstrategien entwickelt haben, um über China verbotenes Material an Moskau zu liefern. 2021 etwa soll R. laut "FT" auch nach Griechenland geflogen sein, um "Maxim" persönlich 230 Mikrochips im Wert von 45.000 Euro zu übergeben. Insgesamt sollen die französischen Ermittler Rechnungen für 34.000 Chips gefunden haben. R. bestreitet alle Vorwürfe.
Deutsche Maschinen für Putins Kriegsmaschinerie
Nicht viele Manager betreiben so hohen persönlichen Aufwand wie R., um Kontakt mit ihren russischen Geschäftspartnern zu halten. Die interessieren sich schon längst nicht mehr nur für westliche Mikrochips. Auch die Hersteller von Werkzeugmaschinen unterliegen schon seit Putins Invasion auf der Krim strengsten Kontrollen. Die Präzisionsanlagen, mit der Metallteile für Waffen gefräst werden können, dürfen seitdem faktisch nicht mehr nach Russland exportiert werden.
Ulli S., bis vor kurzem Chef einer Werkzeugmaschinenfirma in Baden-Württemberg, hat das offenbar trotzdem nicht abgehalten. Er sitzt seit August in Untersuchungshaft und wurde im Oktober angeklagt, weil er einer russischen Waffenfirma sechs Anlagen für die Produktion von Scharfschützengewehren im Wert von 2 Millionen Euro geliefert haben soll. Laut Bundesanwaltschaft soll er dafür im Frühjahr 2015 - ein Jahr nach Moskaus Annexion der Krim - Verträge geschlossen haben. Verschleiert wurden die Lieferungen demnach über eine russische Firma, ein Schweizer Unternehmen und über Litauen. Die Firma von Ulli S. soll laut den Ermittlern sogar Mitarbeiter der russischen Waffenfirma für den Umgang mit den deutschen Maschinen geschult haben.
Der Kampf gegen die russischen Schmuggelrouten ist für die Geheimdienste schon immer ein Katz-und-Maus-Spiel gewesen: sobald ein Netzwerk ausgehoben wird, entsteht sofort ein neues. Nicht nur, weil Moskau die Mikrochips um jeden Preis braucht. Sondern auch, weil ein globales Embargo zu teuer wäre: "Man verbietet den eigenen Firmen faktisch, Geld zu verdienen", zitiert die "FT" einen Ex-Beamten des US-Sicherheitsrats. Solange der Westen nicht bereit ist, einen höheren Preis zu zahlen und auch Exporte nach China, Thailand oder in die Golfemirate zu verbieten, werden Russlands Agenten also nicht aufhören, westliche Technik über Mittelmänner aufzukaufen. Sondern dabei nur noch tiefer im Untergrund verschwinden.
Quelle: ntv.de