
Die Länder Nordeuropas verbindet viel miteinander - doch ist Skandinavien der richtige Sammelbegriff?
(Foto: imago images/Volker Preußer)
Europas Norden steht derzeit im Fokus - Schweden und Finnland drängen in die NATO. Immer wieder ist dabei von den "skandinavischen Ländern" die Rede. Aber zählt Finnland überhaupt zu Skandinavien? Einfach ist das nicht zu beantworten. Ein Nordeuropa-Experte klärt auf.
Seit dem angestrebten NATO-Beitritt von Schweden und Finnland ist immer wieder von den "skandinavischen Ländern" die Rede, welche bald zu dem Militärbündnis zählen könnten. Bei Schweden ist diese Zuordnung unstrittig, aber was ist mit Finnland? Kann man es wirklich zu Skandinavien rechnen? "Es gibt kein klares Ja und kein klares Nein", sagt Ralph Tuchtenhagen, Professor für Skandinavistik am Nordeuropa-Institut der Humboldt-Universität Berlin, im Gespräch mit ntv.de. "Aber Finnland gehört eher nicht zu Skandinavien." Nur warum?
Die Antwort hat viele Facetten. Etwa die Geografie. "Es gibt das skandinavische Gebirge auf der einen Seite, und dann gibt es noch Finnland auf der anderen", sagt Tuchtenhagen. Während das Gebirge die gleichnamige skandinavische Halbinsel definiert, reichen dessen Ausläufer lediglich in den Norden Finnlands. Es gibt allerdings einen Begriff, mit dem versucht wird, Finnland geografisch trotzdem daran anzubinden: Fennoskandinavien, ein Kofferwort aus Finnland und Skandinavien. "Das ist aber eher eine geografische Konstruktion."
Deutlich mehr Bezug zu Skandinavien hat Finnland in anderer Hinsicht: "Seit dem 12. Jahrhundert bis 1809 gehörte Finnland zum Schwedischen Reich und existierte gar nicht als Staat oder auch nur schwedische Provinz", erklärt der Nordeuropa-Forscher. Durch diese lange Phase sei Finnland historisch und kulturell stark von Schweden beeinflusst. Entwicklungen wie Reformation und Aufklärung seien übernommen worden. "Insofern könnte man in dieser Hinsicht schon einen Bezug zu Skandinavien sehen", sagt Tuchtenhagen.
"Sprachlich nur zu kleinem Teil skandinavisch"
Ein weiteres Kriterium: die Sprache. Dänemark etwa zählt rein geografisch zwar ebenfalls nicht zu Skandinavien, wegen seiner sprachlichen Nähe und historischen Verbindung zu Norwegen aber schon. Bei Finnland ist die Sache komplizierter. Das Finnische ist mit den germanischen Sprachen Schwedisch und Norwegisch nicht eng verwandt. Ähnlichkeiten gibt es hingegen mit dem Ungarischen, das genaue Verhältnis ist aber unklar. Schwedisch ist zwar offizielle Amtssprache in Finnland, wird aber nur von etwa fünf Prozent der Bevölkerung gesprochen. "Sprachlich ist Finnland nur zu einem kleinen Teil skandinavisch geprägt", so Tuchtenhagen.
Aber was ist mit den Genen? Sind Schweden, Norweger und Finnen nicht so eng verwandt, dass man sie als "Skandinavier" in einen Topf schmeißen könnte? Lange hatte man Finnen aufgrund der sprachlichen Nähe auch genetisch als Verwandte der Ungarn betrachtet. "Aber laut genetischen Untersuchungen ist das völliger Humbug", sagt Tuchtenhagen. "Finnen haben genetisch eher etwas mit Schweden und Russen zu tun." Am Ende sei Finnland mit Blick auf die Gene aber ein Mischgebiet wie alle Staaten Europas.
Aber was sagen die Finnen selbst? Würden sie sich zu Skandinavien zählen? Der Nordeuropa-Experte winkt ab: "Kein Finne würde heute sagen, wir sind Skandinavier." Dennoch gebe es eine verbindende Identität: Finnland verstehe sich als Teil des "Nordens", eine Eigenbezeichnung, die in Nordeuropa heute sehr verbreitet sei. "Auch Norweger und Schweden sehen sich als Teil davon", sagt Tuchtenhagen.
Identität vom "Norden" noch jung
Die Identität vom "Norden" habe sich ab den 1950er Jahren herausgebildet und umfasse heute neben Finnland, Schweden und Norwegen auch Länder wie Dänemark, Island und Grönland, so der Experte. Das spiegele sich auch in internationalen Institutionen wie dem Nordischen Rat, dem Nordischen Ministerrat und der Nordic Investment Bank wider. "Von den Politikern in diesen Ländern wird die nordische Zusammenarbeit immer wieder sehr betont."
Wenn man also - wie etwa in Hinblick auf eine mögliche NATO-Erweiterung - Finnland und Schweden gemeinsam einordnen wolle, dann wäre die Bezeichnung "nordeuropäische Länder" oder "Nordeuropa" sinnvoll, sagt der Experte. "Auf jeden Fall sollte man Finnland nicht als skandinavisch bezeichnen."
Übrigens: Wo der Begriff Skandinavien ursprünglich herstammt, ist unklar. Die Bezeichnung "Scatinavia" tauchte erstmals im 1. Jahrhundert beim römischen Autor Plinius dem Älteren auf - er hielt das Gebiet noch für eine Insel von "unbekannter Größe". "Erst im 16. Jahrhundert setzte sich Skandinavien auch als Eigenbezeichnung in der Region durch", sagt Tuchtenhagen.
(Dieser Artikel wurde am Samstag, 11. Juni 2022 erstmals veröffentlicht.)
Quelle: ntv.de