Leben

Bilanz und Neuausrichtung "Midlifer kennen die Preisschilder"

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Was war gut, was soll anders werden? Diese Fragen stellen sich mehr Menschen, als man denken könnte.

(Foto: imago/Photocase)

Wenn Menschen in ihren 40ern sich früher fragten, wie ihr Leben weitergehen soll, vermutete man eine Midlifecrisis. Dieses Konzept ist inzwischen überholt, sagt Antje Gardyan. Sie berät Menschen in dieser Umbruchphase, die ebenso herausfordernd wie spannend ist.

n-tv.de: Wann ist denn die Lebensmitte?

Antje Gardyan: Es ist jedenfalls nicht die Hälfte der Lebenserwartung. Sondern es ist ein Zeitfenster, das sich aus unterschiedlichen biografischen Faktoren ergibt. Zum Beispiel daraus, wie lange die Ausbildung gedauert hat. Andere Faktoren sind: Wann habe ich geheiratet, wie alt sind meine Kinder? Wie alt sind die Eltern und wie fit sind sie noch?

Wenn Sie sich festlegen müssten, über welches Alter sprechen wir?

Ich sage immer, 38 bis 58.

Bisher sprach man in dieser Zeit von der Midlifecrisis, was ist an Ihrem Konzept der Lebensmitte anders?

Das Konzept der Midlifecrisis stammt aus den 1970er-Jahren und war gar nicht verkehrt gedacht. Übriggeblieben davon ist das etwas jämmerliche Bild von einem alternden Mann, der nicht alt werden will. Er kauft sich einen Porsche und schafft sich eine junge Freundin an. Aber das ist inzwischen zu eindimensional. Heute betrifft die Lebensmitte Frauen und Männer gleichermaßen. Man ist schon ein Stück gegangen. Es geht also um Bilanzierung, aber nicht vordergründig um Probleme mit dem Altwerden. Viele wollen in dieser Zeit mit den Erfahrungen, die sie bereits gemacht haben, die Lebenszeit, die ihnen bleibt, positiv gestalten.

Gehört dazu auch, dass man sich das erste Mal bewusst von Träumen verabschiedet?

Ja, das ist auch ein Teil des Schmerzes. Man merkt, dass man nicht mehr CEO, Ballerina oder Mutter wird. Vielleicht hat man auch gedacht, man würde in einer Partnerschaft leben, tut es aber nicht. Manche klassische Version des Lebensentwurfs wird einfach nicht mehr eintreten.

Ich nehme an, das ist nicht nur schlecht.

Nein, weil ich mich jetzt fragen kann, was ich denn davon überhaupt noch will. Welche Möglichkeiten habe ich, das zu leben, was ich jetzt möchte? Kann ich beispielsweise Familie auch anders leben? Klar verabschiedet man sich oder sieht zumindest ein, dass nicht mehr alles eintreten wird. Dabei geht es auch um Kontrollillusion. Gerade die Generation der in den 1960er-Jahren Geborenen ist oft so erzogen worden, dass man sich nur genug Mühe geben und einfach etwas tun muss. Aber nun begreift sie, dass sie das alles gar nicht in der Hand haben.

Wie versuchen Sie das denn Ihren Klienten klarzumachen?

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Antje Gardyan machte sich nach einer Verlagskarriere als Coach selbständig.

(Foto: Felix Matthies)

Wir schauen, wo der ursprüngliche Wunsch herkommt, etwas Bestimmtes zu erreichen oder darzustellen. Viele glauben, dass zu einem gelungenen Leben ein guter Beruf, eine funktionierende Ehe, wohlerzogene Kinder und ein eigenes Haus gehören. Aber kommt das aus uns selbst oder ist das ein Auftrag, den ich von irgendwo aus der Familie, den Medien oder Werbung oder Freunden mitbekommen habe? Ist das wirklich mein Ziel? Oder auch: Ist das noch mein Ziel?

Was ist an der Unterscheidung dieser beiden Fragen wichtig?

Das Wort noch oder man könnte auch sagen: inzwischen. Was habe ich inzwischen darüber gelernt, was es kostet, in einer Organisation Karriere zu machen? Wie wichtig ist mir inzwischen ein bestimmter Wohlstand? Menschen in der Lebensmitte kennen die Preisschilder, die an bestimmten Zielen hängen und können diese dann neu bewerten. Das Ziel ist eine Blickrichtung. Die andere ist die bisherige Lebensleistung. Wenn ich in Niedersachsen, wo ich herstamme, geblieben wäre, hätte ich garantiert ein Haus mit Garten. In Hamburg, wo ich jetzt lebe, ist das aber eine ganz andere Geschichte. Bestimmte Träume können relativiert werden, und wer in München, Berlin oder Hamburg eine schöne Wohnung hat, hat auch verdammt viel erreicht.

Sie sprechen vom inneren Entwicklungsprozess, der keineswegs in der Lebensmitte endet. Viele hoffen aber, jetzt doch mal angekommen zu sein.

Ich spreche immer vom Tafelberg des Glücks, den wir hoffen zu erreichen. Man geht davon aus, dass man, wenn man erwachsen ist, aus diesen Mühen heraus ist. Aber das Leben ist und bleibt ein Prozess und auch der Erwachsene entwickelt sich in seiner Persönlichkeit weiter und verändert sich. Das erstaunt und irritiert uns.

Werden Kinder inzwischen anders geprägt?

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Das werden wir in 20 Jahren sehen. Ich habe heute einige 70-Jährige um mich herum, die sagen: Wir haben über die Lebensmitte und die damit verbundenen Erwartungen überhaupt nicht gesprochen. Diese Generation hatte damit keine Chance, weil es um ganz andere Dinge ging. Aber jetzt fangen wir an, darüber zu reden. Nun könnte es selbstverständlicher werden.

Ist die Lebensmitte denn eine rein private Baustelle?

Nein, überhaupt nicht. In den nächsten elf Jahren gehen 37 Prozent aller Erwerbstätigen in den Ruhestand. Das ist eine enorme Zahl, der Fachkräftemangel ist allein durch junge Leute nicht aufzufangen, das wissen wir. Damit stellt sich die Frage an die Midlifer, ob sie nicht etwas länger arbeiten können und wollen. Irgendwann wird die Freiwilligkeit vielleicht wegfallen, weil es nicht anders geht. Aber dann geht es um den Ansatz, wie können auch 65- bis 70-Jährige mit Freude und Lust im Berufsleben stehen? Allein durch die steigende Lebenserwartung verändern sich die Erwerbsbiografien. Früher gab es die festen Phasen: Ausbildung, Berufstätigkeit, Rente. Inzwischen unterteilt sich viel mehr, weil immer wieder Ausbildungsphasen zwischendurch nötig sind, um zukunftsfähig zu bleiben und den Job interessant zu halten. Ich habe also mit Ende 30, Anfang 40 noch eine Ausbildungsphase. Und dann nochmal mit 50. Altes und neues Wissen zu verknüpfen, ist dabei ganz wichtig. Damit kann ich dann ein neues Jobprofil füllen oder auch Dinge loslassen, weil sie nicht mehr relevant sind.

Wird das im Arbeitsleben schon thematisiert?

Diejenigen, die sich damit beschäftigen, fragen sich zunehmend, wie sie ihre Unternehmensziele mit denen der Midlifer synchronisieren können. Meine These ist: In fünf Jahren werden wir genau diese Programme haben. Ich nenne diejenigen, die Lust haben, sich zu entwickeln, Midlifeperformer. Und die werden schauen: Wo unterstützt mich mein Unternehmen? Mit Weiterbildung, mit Zeit, mit klar formulierten Zielen? Noch erkennen viele Unternehmen dieses Potenzial nicht. Aber wir sind in einem Transformationsprozess.

Wo gibt es denn am ehesten Anzeichen für Veränderungen?

Ich bemerke die ersten Zeichen vor allem in großen Unternehmen, die eine große Mitarbeiterzahl haben und dementsprechend viele eben auch im Alter 45+. Die müssen sich dringend etwas einfallen lassen für diese Mitarbeitergruppe. Deshalb müssen sie sich klarmachen, was sie wollen und sich damit auch verständlich machen. Beispielsweise in Stellenausschreibungen, in denen viel klarer formuliert werden muss, was man mitbringen muss und was davon man vielleicht auch erlernen kann. Einige Mitarbeiter hoffen natürlich auch, dass der Kelch an ihnen vorübergeht, aber das ist eine Illusion.

Wie wichtig sind in diesem Zusammenhang Selbstbewusstsein und Optimismus?
Das ist natürlich eine Einstellungsfrage, ob ich weiter mitmischen und gestalten will oder lieber von der Seitenlinie aus zugucken und kommentieren. Meine These ist, dass viele Midlifer absolut in der Lage sind, Transformation und Digitalisierung mitzugestalten. Ohne Neugier, Offenheit und Gestaltungswillen funktioniert das nicht. Allerdings warten viele darauf, dass man ihnen die Hand reicht, und das sollte man auch tun.

Mit Antje Gardyan sprach Solveig Bach

Quelle: ntv.de

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