Leben

In Vino Verena "Schnauze halten ist keine Option mehr"

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Ein Demonstrant auf einer Demo gegen Querdenker

(Foto: picture alliance/dpa)

Spätestens seit Merkels Widerruf der "Osterruhe" scheint das Chaos in den Köpfen der Menschen komplett zu sein. Corona-Müdigkeit ist kein Gefühl mehr, sondern ein Standpunkt. Als könnte man mit einem Virus verhandeln. Unsere Kolumnistin über den Riss in unserer Gesellschaft.

"Das kann ja wohl nicht wahr sein! Wir lassen uns von dieser Regierung nicht länger unsere Freiheit rauben", sagt meine Nachbarin und will wissen, ob ich schon in meinen Briefkasten geschaut habe. Da liege ein Zettel drin mit Informationen für mich, wen ich im September am besten wählen solle, damit es "mit diesem Land nicht gänzlich bergab" ginge.

Ich nicke freundlich und bekunde, total Lust auf einen Treppenplausch zu haben, aber leider furchtbar in Eile zu sein. Im Inneren schwillt mir der Kamm. Ach, was sage ich: Er ist seit Monaten geschwollen. Weil ich mich nur noch durch die Nachbarschaft laviere, vorbei an Menschen, die mir sehr hartnäckig ihre Meinung und Sicht der Dinge aufquatschen wollen. Ich bin müde. Von diesem elenden Lavieren, um mich nicht mit meinen Nachbarn in die Haare zu kriegen, die meinen, eine Schattenregierung habe Deutschland im Griff.

Müde von meinen Freunden, die mir Fotos von geheimen Wohnungspartys schicken, und müde von der ganzen Situation. Müde wie viele andere Menschen auch. Gleichzeitig ist da diese nicht mehr zu unterdrückende, stetig ansteigende Wut in mir, die wie eine innere Stimme sagt: "Verena, Schnauze halten ist keine Option mehr! Du musst jetzt den Leuten direkt ins Gesicht sagen, wie unsolidarisch und zutiefst asozial du es findest, wenn sie sich an keine Regeln halten wollen und nach wie vor meinen, Masken seien der Witz schlechthin." "Ihr seid der Witz schlechthin", möchte ich am liebsten drauf lospoltern. Aber ich schweige. Man will ja niemanden kompromittieren. Der Haussegen muss gewahrt bleiben.

Die Ungehorsamen haben "Corona" durchschaut

Schließlich raten mir auch Freunde und Bekannte in der Corona-Causa, Themen, bei denen man nicht auf einen gemeinsamen Nenner kommt, am besten auszuklammern. Es gäbe schließlich auch anderes, über das man reden könnte. Nena zum Beispiel. Oder Malle. Oder vielleicht darüber, dass Leute in meinem Freundes- und Bekanntenkreis sich allen Ernstes als Revoluzzer sehen, als Ungehorsame, die "Corona", ja alle Mechanismen, die unsere Welt zusammenhalten, durchschaut hätten.

Mich überkommt unlängst immer öfter die Lust, mich pausenlos zu besaufen, ins Bett zu legen und so lange durchzupennen, bis die Pandemie endgültig vorbei ist. Was ich auch nicht mehr hören kann, ist, wie unsensibel in diesen Tagen mit dem Begriff der Freiheit umgegangen wird. Man würde uns unserer Freiheit berauben, aha, soso. Ich frage mich, was das für eine Freiheit sein soll, von der da die Rede ist? Die Freiheit, mit seinem Hintern im Warmen auf dem Sofa zu sitzen und Fußball zu glotzen? Die Freiheit nach Malle zu fliegen? Ich wohne übrigens neben einem Frauengefängnis, hatte ich das schon mal erzählt?

Wenn Leute mir sagen, die Merkel-Regierung beraube sie ihrer Freiheit, muss ich unweigerlich an meinen Großvater denken, der jahrelang eingesperrt war, weil er einst vor Hunger Kartoffeln klaute. Ich muss auch an die DDR denken, in der die Freiheit offiziell an der Mauer endete und in der man alles daran setzte, ihr auch in den Köpfen der Menschen Grenzen zu setzen. Ich glaube, einige Leute, die jetzt am lautesten über die Einschränkungen maulen, sind diejenigen, für die die Freiheit, wie Oskar Kokoschka es nannte, nichts weiter als "ein Kaugummi-Begriff" ist. Die, die Freiheit als selbstverständlich, als Geburtsrecht erachten.

"Heute in Berlin ist dein Ende!"

Vor einiger Zeit habe ich eine Kolumne über eine Feier geschrieben. Ich fühlte mich auf dieser Feier, auf der das Virus wegignoriert und lautstark geleugnet wurde, einsam und fehl am Platz. Ich erhielt auf diesen Text auch viel böse Leserpost. Einer nannte mich: "Merkel-Arschleckerin", ein anderer schrieb, ich sei ein "dummes Schaf", dessen "Gehirn von der Regierung gefickt worden sei" und wieder einer schrieb: "Heute in Berlin ist dein Ende!" Ich dachte dann sehr lange darüber nach, am besten gar nichts mehr über die Pandemie oder meine Gefühle in dieser so schwierigen Zeit zu schreiben, auch, weil ich all dem Hass manchmal emotional nicht gewachsen bin und nicht einsehen will, wenn man mir sagt, das müsse ich aber in dem Moment, in dem ich einen Text veröffentliche.

Nun ist es wirklich nicht so, dass es mich verletzt, wenn mich so ein Hans-Jochen "Merkel-Arschleckerin" nennt, weil ich nämlich über all die Kurzschlüsse der Kanzlerin auch nur noch den Kopf schütteln kann. 16 Jahre Angela. Das ist eine sehr lange Zeit. Bald endet sie. Wie alles irgendwann endet. Die Pandemie. Das Leben. Nur die Gier scheint wie die Blödheit endlos.

Ich stamme aus einem katholischen Elternhaus und habe nie verstanden, was am C in der CDU christlich sein soll. Ich empfinde allein den Namen dieser Partei als pure Heuchelei. Es ist nichts christlich daran, sich in diesen Tagen mit dubiosen Maskendeals zu bereichern. Die Gier zählt unter Christen als Todsünde, gefolgt von der schlimmsten aller Todsünden - dem Hochmut. Jene Abgehobenheit von Politikern, zu meinen, über dem Gesetz zu stehen, frei nach dem Motto: "900.000 Euro mit Masken verdienen - gönn dir!"

Jesus hätte diese Christen nicht gewollt

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In ein paar Tagen steht Ostern vor der Tür. Die Menschen werden - wenn sie denn christlich sind - in die Kirchen gehen, in denen Nächstenliebe gepredigt wird. Von einem Verein, in dem Machtmissbrauch und Vertuschung an der Tagesordnung waren und sind. Es sei wichtig, in diesen Zeiten nicht die Pforten für die Menschen zu schließen, die Gott nah sein wollen, heißt es. Das ist, man kann es nicht anders sagen, an Heuchelei kaum zu überbieten. Jesus hätte diese Christen an der Spitze der Kirche nicht gewollt.

Abends, es ist bereits dunkel geworden, schleiche ich durchs Treppenhaus. Von der Straßenlaterne bricht das Licht diffus durch die große Eingangstür. Ich öffne den Briefkasten. Darin Querdenker-Gesülze auf einem großen Zettel. Am nächsten Tag treffe ich die Nachbarin. Ich laviere nicht mehr und sage ihr nett, aber bestimmt, dass ich ihre Ansichten weder teile noch gutheiße und sie sogar für ausgesprochen gefährlich für die Demokratie halte. Denn Freiheit ist, wie George Orwell einst schrieb, auch das Recht, anderen zu sagen, was sie nicht hören wollen. Und das gilt für jeden Einzelnen von uns.

Quelle: ntv.de

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