Panorama

Erfolg hängt von Wohnort ab "Damit werden Asylanträge in Deutschland zur Lotterie"

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Asylsuchende genießen kein Recht auf eine freie Wahl des Wohnortes. Welche Behörden für sie zuständig sind, hängt damit auch vom Zufall ab.

Asylsuchende genießen kein Recht auf eine freie Wahl des Wohnortes. Welche Behörden für sie zuständig sind, hängt damit auch vom Zufall ab.

(Foto: picture alliance/dpa)

Die Gleichheit vor dem Gesetz gehört zum Fundament des Rechtsstaats - und kommt in Deutschland zunehmend in Bedrängnis. Eine Forschergruppe warnt vor "administrativer Diskriminierung". So variieren die Chancen auf einen Aufenthaltstitel je nach Wohnort - und nach politischer Stimmung vor Ort.

Asylklagen vor dem Verwaltungsgericht Gera haben jahrelang so gut wie keine Chance. Das weiß hinter vorgehaltener Hand jeder, der mit der Institution zu hat - oder zu tun haben muss. Der damals zuständige Richter und Vizepräsident des Gerichts, Bengt Fuchs, lehnte beinahe jede Klage von Geflüchteten aus Nigeria ab. Während seine Kollegen im Bundesschnitt 6,8 Prozent der Klagen desselben Hintergrundes stattgeben, sind es bei Fuchs gerade einmal 0,2 Prozent. Das ist zwar äußerst auffällig, wird jedoch nicht weiter untersucht. Erst, als das Gericht Hinweise von außen erhält, die auf mögliche rassistische Hintergründe des Asylrichters schließen lassen, kommt Bewegung in die Sache.

Der Fall Gera fügt sich in ein erschreckendes Bild, das Forscher der Universität Konstanz jüngst zeichneten. Demnach sind diskriminierende Tendenzen von Justiz und Verwaltung kein Einzelfall - im Gegenteil. Die Wissenschaftler sprechen von einer administrativen Ungleichbehandlung in Deutschland - die außerdem zu wachsen droht.

"Wie in Ämtern und Gerichten über Anliegen von Personen mit Migrationshintergrund entschieden wird, hängt stark von der regionalen Stimmung und der politischen Einstellung der Entscheidenden ab", erklärt der Politologe Gerald Schneider im Gespräch mit ntv.de. Das Ergebnis des Exzellenzclusters "The Politics of Inequality" ist ein Meilenstein auf diesem Gebiet. Denn: Eine vergleichende Statistik zu den Entscheidungen von Ämtern und Gerichten in den einzelnen Bundesländern und Kommunen gibt es nicht. Systematische, anonymisierte Stichproben zum Entscheidungsverhalten wie in anderen EU-Ländern werden in Deutschland nicht erhoben. Damit bleiben extrem abweichende Entscheidungspraxen wie in Gera häufig unter dem Radar.

Härtere Entscheidungspraxis - je nach Region

Nach teils mehrmaliger Nachfrage, vielen Monaten Wartezeit oder gegen die Zahlung einer Gebühr erhielten Schneider und sein Team Daten zu Entscheidungen aller Bamf-Außenstellen, Verwaltungsgerichte und Jobcenter. Im direkten Vergleich fällt den Wissenschaftlern zunächst eins auf: Die Entscheidungspraxis über Asylgesuche sowie über Sanktionen im Bürgergeldbezug unterscheidet sich je nach Region - teilweise sogar von Behörde zu Behörde - erheblich. Ein Beispiel: Während die Ausländerbehörde im hessischen Neustadt von 2015 bis 2023 lediglich 19 Prozent aller Asylgesuche ablehnte, waren es in Heidelberg und Eisenhüttenstadt im gleichen Zeitraum mehr als 50 Prozent.

Lehnt eine Außenstelle des Bamf den Asylantrag eines Geflüchteten ab, kann dieser Klage vor dem Verwaltungsgericht erheben. Ob dieses Verfahren schließlich erfolgreich ist, hängt allerdings offenbar erheblich davon ab, welches Gericht über die Klage entscheidet. So stellten Schneider und sein Team auch in der Justiz eklatante Unterschiede fest. Im thüringischen Meiningen wiesen die Richter von 2010 bis 2021 beispielsweise rund 35 Prozent aller Asylklagen ab. Weit mehr als doppelt so viele Klagen scheiterten im bereits angesprochenen Gera. Die Ablehnungsquote insgesamt betrug dort rund 87 Prozent. Ähnlich hoch war sie in Bayreuth.

Parallelen zeichnen sich schließlich auch bei Entscheidungen der Jobcenter ab. "Die unterschiedlichen Sanktionsquoten sind vor allem auch mit Blick auf die Leistungsbeziehenden ohne deutsche Staatsbürgerschaft immens auffällig", erklärt Schneider das Studienergebnis.

Räumliche und zeitliche Ungleichbehandlung

"Zunächst einmal zeigen uns diese Daten, dass einige Regionen oder sogar einzelne Behörden und Gerichte ziemlich stetig einen deutlich konservativeren Kurs fahren als andere", sagt Schneider. Die Forscher sprechen von "räumlicher Ungleichbehandlung": Bundesgesetze werden bei Personen mit vergleichbaren Fällen je nach Region unterschiedlich vollzogen. Oder anders: Die Chance auf einen positiven Ausgang eines Asylverfahrens steht und fällt mit dem Ort, an dem der Antrag gestellt oder die Klage erhoben wird.

"Gewissermaßen werden Asylanträge in Deutschland damit zur Lotterie", sagt Schneider. Denn: Für Bürgergeldanträge und Asylgesuche sind in der Regel die Behörden im Umfeld des eigenen Wohnortes zuständig. Allerdings steht Asylsuchenden nicht das Recht auf freie Wahl des Wohnortes zu. Diese können somit auch nicht auf eigene Faust umziehen - möglicherweise in eine Region, die bessere Erfolgsaussichten hinsichtlich essenzieller Anliegen verspricht. Menschen mit "rechtlich eingeschränkter Mobilität" seien daher besonders hart von der räumlichen Ungleichbehandlung betroffen, heißt es in der Studie.

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(Foto: RTL)

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Stellt sich die Frage, was zu den teils extremen Unterschieden in der Auslegung von Bundesgesetzen führt. Schneider weist in diesem Zusammenhang auf Aufteilungen der Zuständigkeiten hin. So ist etwa das Verwaltungsgericht Gera für Asylklagen von Menschen aus sicheren Herkunftsländern zuständig, Meiningen hingegen sind keine solchen Fälle zugeordnet. "Doch das allein erklärt nicht die teils eklatanten Unterschiede in der Spruchpraxis", fährt Schneider fort. Zumal das Verwaltungsgericht Gera Klagen, wie beschrieben, auch bei vergleichbaren Fällen auffällig häufig abwies. Die Studie der Forschergruppe um Schneider benennt in diesem Zusammenhang die "zeitliche Ungleichbehandlung".

Politisches Klima spielt eine Rolle

Diese äußert sich vor allem darin, so die Wissenschaftler, "dass die Entscheidungen von Ämtern und Gerichten von den Konjunkturen der öffentlichen Meinung abhängen". Das politische Klima einer Region oder auch einer Behörde habe großen Einfluss auf das Entscheidungsverhalten der Behörden, erklärt Schneider. "Durch Befragungen konnten wir herausfinden, dass es zum Beispiel eine große Rolle für Entscheidungen spielt, wie immigrationsskeptisch die Bevölkerung einer Region eingestellt ist oder etwa wie konservativ ein Landkreis regiert wird." Für das Verhalten der Behörden mache es demnach einen Unterschied, ob die Unionsparteien oder etwa die Grünen im Landratsamt sitzen. Auch eine etwaige migrationsfeindliche Medienberichterstattung verstärke die diskriminierenden Tendenzen der Mitarbeiter.

Neben der öffentlichen Meinung, dem generellen politischen Klima, spielen auch die "Ideologie und Erfahrung derjenigen eine Rolle, die in Ämtern und Gerichten Entscheidungen fällen", heißt es in der Studie weiter. Schneider weist in diesem Zusammenhang auf den ehemaligen Asylrichter Fuchs und einen ebenfalls auffällig restriktiv urteilenden Kollegen aus Gera hin. "Es gibt klare Befunde, unter anderem Indizien auf rechtsradikale Äußerungen, dass die Urteile dieser zwei Richter durch ihre politische Haltung geprägt war", so der Experte.

Den Zusammenhang zwischen diesen "extra-legalen" Faktoren und den Entscheidungen von Justiz und Verwaltung belegten die Forscher bereits in einer vorangegangenen Studie aus dem vergangenen Jahr. Die Entscheidungsfindung der deutschen Ämter und Gerichte werde "in teilweise erheblichem Maße" beeinflusst, heißt es darin. "Dies steht nun völlig im Einklang mit unseren jüngsten Ergebnissen hinsichtlich der regionalen Unterschiede bei Entscheidungen der Bamf-Außenstellen, Verwaltungsgerichte und Jobcenter", fügt Schneider hinzu.

Je kritischer eine Region, desto konservativer die Entscheidung

Im Asylbereich sei dies "besonders gravierend". So zwingen Bundesgesetze, die zudem durch das Völkerrecht gestützt werden, Behörden dazu, ähnlich glaubwürdige Gesuche ähnlich zu bescheiden. "Aber das ist eben nicht der Fall", sagt Schneider. Grund dafür seien die extra-legalen Faktoren. Regelmäßig gelte: Je kritischer eine Region oder Behörde Migration und Asyl gegenüberstehe, desto konservativer fällt die Entscheidung von Justiz und Verwaltung aus.

Nun sind individuelle Diskriminierungen durch staatliche Stellen nur schwer zu beweisen. Ein Grund dafür liegt im Rechtsstaat selbst: Behörden und vor allem Gerichten steht ein enorm großer Entscheidungsspielraum zu. Nur so kann die notwendige Flexibilität für Einzelfallentscheidungen gewährt, nur so können sach- und zeitgemäße Urteile sichergestellt werden. Doch sei eben dieser essenzielle Spielraum auch ein Einfallstor für Missbrauch, heißt es in einem Beitrag auf dem Verfassungsblog. Rassismus und Diskriminierung könnten in Urteile übersetzt und dabei hinter "formal-juristischen Formulierungen versteckt" werden. Auch die Asylrechts-Entscheidungen von Richter Fuchs aus Gera seien "oft aus denselben Textbausteinen vermeintlich neutraler juristischer Formulierungen zusammengesetzt" gewesen, schreiben die Juristinnen. Dass die richterliche Unabhängigkeit dabei überschritten worden sein könnte, ist jedoch kaum zu beweisen.

Spuren der Migrationsdebatte

Was im Einzelfall schwierig ist, gelingt in der Masse, betonen die Forscher um Schneider. So begründe die wiederholte zeitliche und räumliche Ungleichbehandlung vergleichbarer Personen den "Verdacht auf administrative Diskriminierung" in Deutschland. Darunter leiden nicht nur die direkt Betroffenen, heißt es in der Studie. "In der Summe erschüttert die administrative Ungleichbehandlung auch das Vertrauen in den Rechtsstaat." So verbietet Artikel 3 die Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem. Die Gleichheit vor dem Gesetz gehört zum Fundament einer rechtsstaatlichen Verwaltung und Justiz.

Dieses Fundament droht nun brüchig zu werden, mahnt Schneider mit Blick auf die angespannte politische Lage sowie die Migrationsdebatten der vergangenen Monate. Während die Datenerhebung und Supervision weiter dünn bleibe, steige der Aktionismus und die Stimmungsmache gegen Migration. Die Gefahr dieser Mischung zeigen jüngste noch unveröffentlichte Erkenntnisse: "Wir können bereits sehen, dass die Sanktionsquoten beim Bürgergeld für Menschen ohne deutschen Pass dort steigen, wo die AfD viel Zuspruch hat." Dieser Trend, mahnt Schneider, "wird sich in Zukunft verstärken".

Quelle: ntv.de

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