Panorama

Migrationsdebatte in Deutschland "Die Entmenschlichung ist hier besonders extrem"

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Eine Registrierungs- und Aufnahmeeinrichtung für Geflüchtete in Malakasa, nördlich von Athen, die im vergangenen Herbst von Bundespräsident Steinmeier besucht wurde.

Eine Registrierungs- und Aufnahmeeinrichtung für Geflüchtete in Malakasa, nördlich von Athen, die im vergangenen Herbst von Bundespräsident Steinmeier besucht wurde.

(Foto: picture alliance/dpa)

Das Thema Migration steht im Zentrum des Wahlkampfes - Diskussionen über Grenzschließungen und Fünfpunktepläne reißen nicht ab. Die dabei vorherrschende Rhetorik hat eine klare Stoßrichtung, analysieren Experten. Das ist für Schutzsuchende besonders fatal - und kommt vor allem einer Partei zugute.

"Wir sprechen über Menschen wie über Klappstühle." Als die Migrationsdebatte bei "Hart aber fair" am vergangenen Wochenende ihr Ende findet, ist es vor allem dieser Satz von Isabel Schayani, der hängen bleibt. Inmitten der Diskussion über geschlossene Grenzen, Fünfpunktepläne und Wortbrüche wird der Beitrag der Journalistin zu einem derzeit selten angestellten Perspektivwechsel.

Schayani berichtet von ihrer jüngst beendeten Recherchereise in Syrien. Sie gibt einen Einblick in das Leben und den Alltag jener Menschen, über die derzeit im Stundenrhythmus diskutiert wird. Hinter dem "Problem der Zuwanderung" kommen bettelnde Kinder, eine Hauptstadt ohne Strom und eine nahezu nicht existente Wirtschaft ebenso zum Vorschein wie Erfolgsgeschichten von Geflüchteten in Deutschland. Von alldem sei in den aktuellen Debatten kaum etwas zu hören. "Wo geht das gerade eigentlich hin?", fragt Schayani in die Runde, bevor der kurze Perspektivwechsel vom Moderator der Sendung beendet wird.

Das "gerade" dürfte sich vor allem auf die vergangenen zweieinhalb Wochen beziehen. Seit dem verheerenden Gewaltverbrechen in Aschaffenburg ist das Thema Migration allgegenwärtig. Migrations- und Asylrecht werden im Bundestag, in Talkshows und am Küchentisch diskutiert. Dass der Ton dabei durchaus rau sein kann, ist nicht neu - Zuwanderung ist seit jeher ein aufgeladenes Thema. Allerdings ist auch Schayanis "Klappstuhl"-These nicht aus der Luft gegriffen. Die Rhetorik der Debatte in Deutschland hat eine klare Stoßrichtung - mit fatalen Folgen.

"Vieles am Sprachgebrauch der aktuellen Debatte ist auffällig, aber nicht neu", sagt die Linguistin Juliane Schröter im Gespräch mit ntv.de. So werden Geflüchtete als Wassermasse dargestellt, die nach Deutschland strömt. "Das ist auch in vielen anderen Migrationsdebatten nachgewiesen worden." Ausdrücke wie "Migrant", "Migration" oder "Flüchtling" fielen oft im Zusammenhang mit Mengenangaben, etwa "Tausende", "Hunderttausende" oder "Millionen". Auch Wörter wie "Rückführung", "Kontingent" oder "Rücknahme" würden häufig in Migrationsdebatten genutzt, sagt Schröter.

Menschen werden unsichtbar

Der Diskurs sei also von Formulierungen geprägt, die auch im Zusammenhang mit Gütern und Produkten verwendet werden, so die Linguistin. Doch auch Ausdrücke wie "Zuwanderungssteuerung", "Bedrohungsgesamtrechnung" oder "Regelausweisung", die sich nicht direkt auf Menschen beziehen, kennzeichneten die aktuelle Diskussion. Nun hänge es vor allem an der Sprache einer Debatte, an der Wortwahl, welche Assoziationen im Kopf entstünden. "Nutze ich Wörter, die sich eigentlich nicht auf Menschen beziehen, um über Migration zu sprechen, dann mache ich die Menschen dahinter sprachlich unsichtbar", erklärt Schröter. Das passiere kaum zufällig. "Vielmehr ist die Sprache, mit der über Migration gesprochen wird, oft ein strategisches Mittel."

Ähnlich einflussreich ist der Expertin zufolge die konkrete Bezeichnung der Zuwanderung: Während SPD, Grüne, Linke und FDP größtenteils von "irregulärer Migration" sprechen, geht es bei Union und AfD vor allem um "illegale Migration". Beide Begriffe beschreiben die Zuwanderung ohne Einreisegenehmigung. "Allerdings verbinden wir 'illegal' direkt mit Verbrechern und Gewalttätigen", sagt Schröter. Dabei gibt es dafür keine rechtliche Grundlage, im Gegenteil. Migration an sich verstößt gegen kein Gesetz. Migrantinnen und Migranten haben gemäß EU-Recht das Recht, einen Schutzantrag zu stellen. Mindestens für die Zeit der Prüfung des Antrags oder der Kompetenz befinden sie sich völlig gesetzeskonform im Land. Das allerdings wird durch den Begriff "illegal" weitestgehend verschleiert. Nach Schröter ist "Criminalization" eine bekannte Strategie aus Migrationsdebatten - sie lässt mehr Menschen als kriminell oder nicht gesetzestreu erscheinen, als es tatsächlich der Fall ist.

Im Prinzip sei die Debatte über Migration gespickt von Kollektivsymbolik, fasst Benno Nothardt, Mitarbeiter am Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung, im Gespräch mit ntv.de zusammen. Das heißt: "Es werden Bilder genutzt, die im kollektiven Bewusstsein verankert sind." Im Fall der Zuwanderung seien das vor allem Symbole, die mit Gefahr in Verbindung gebracht werden.

Nothardt nennt den von der Union erfolglos eingebrachten Gesetzesentwurf zum Zustrombegrenzungsgesetz als Beispiel. "Die Bezeichnung impliziert, Geflüchtete wären wie Wassermassen, die auf bedrohliche Weise auf uns zuströmen." Den gleichen Effekt hätten Bezeichnungen wie "Flüchtlingswelle", "Flüchtlings-Tsunami" oder Migrationsstrom. Eine Art von Naturkatastrophen, gegen die es sich zu schützen gelte. "Und weil man mit Fluten bekanntlich schlecht sprechen kann, helfen nur Schutzmechanismen wie Deiche und Mauern."

Taktik, um Diskussionen zu überspringen

Die Diskursforschung kritisiert den Begriff daher bereits seit Jahren. So ist der "Zustrom" in Bezug auf Migration kein Werk der Union, sondern wird bereits als Kurzform für die "Massenzustrom-Richtlinie" der EU genutzt. "Die Bezeichnung ist vor allem deshalb gefährlich, weil sie Geflüchtete zu einer nicht mehr individuellen, sondern amorphen, bedrohlichen Masse macht", erklärt Nothardt. "Die Entmenschlichung ist hier besonders extrem."

Ebenso wie das Mittel der "Existenzpräsupposition". Dabei handelt es sich um einen sprachlichen Ausdruck, mit dem die Existenz von etwas unterstellt wird. Sprachwissenschaftlerin Schröter erklärt: "Der Ausdruck 'Zustrombegrenzungsgesetz' setzt voraus, dass es einen Zustrom an Migrierenden gibt, der begrenzt werden muss." Die Diskussion darüber, "ob das tatsächlich so ist oder ob die wirklichen Probleme vielleicht woanders liegen, soll durch die Bezeichnung gewissermaßen übersprungen werden".

Nun sprechen die Expertinnen und Experten hinsichtlich der aktuellen Debatten, die sicherlich auch vom Wahlkampf befeuert werden, zwar von einem durchaus "aggressiveren Ton". Generell seien sprachtaktische Mittel in Bezug auf Migrationsdebatten allerdings keineswegs neu. Auch dürfte kaum jeder, der im Zusammenhang mit Geflüchteten von einem "Zustrom" spricht, die Absicht haben, die Migranten hinter dem Wort unsichtbar zu machen. Das betonen auch die Sprachwissenschaftler. Vielmehr machen sich jene Ausdrücke durch den politischen Alltag, durch Medien selbstständig. Also alles halb so wild?

"Manche denken, weil ich Afghanin bin, dass ich böse bin"

Im Gegenteil, mahnt Schröter. "Wir müssen uns bewusst sein, dass unser Sprachgebrauch großen Einfluss auf unser Denken hat. Wie wir über etwas sprechen, beeinflusst also, wie wir uns entscheiden und wie wir handeln." Die Linguistin nennt ein Beispiel: Vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1950er-Jahre erschienen zahlreiche "wissenschaftliche" Texte über menschliche "Rassen", die angeblich einen unterschiedlichen Wert hätten. Im Zusammenhang mit Menschen von "Rassen" zu sprechen, war bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs selbstverständlich. "Am Ende hat dieser Sprachgebrauch zweifellos ein Denken befördert, das als einer von mehreren Faktoren dem Nationalsozialismus den Weg geebnet hat", erinnert Schröter.

Erste Konsequenzen des einsickernden radikalen Sprachgebrauchs lassen sich schon jetzt nicht mehr von der Hand weisen. "Indem wir fast ausschließlich negativ über Migration sprechen, blenden wir die Chancen von Zuwanderung aus", sagt Politikwissenschaftler Johannes Hillje im Gespräch mit ntv.de. Zudem würden die Pauschalisierungen und Verdächtigungen von Geflüchteten zunehmen. Hillje erinnert an einen dafür symbolträchtigen Moment nach der Gewalttat von Aschaffenburg. Die Migrationsdebatte war bereits in vollem Gange, da trat eine zwölfjährige Afghanin auf einer Gedenkveranstaltung ans Mikrofon und entschuldigte sich bei der Mutter eines der Opfer. Auf die Zurufe, dass sie mit der Tat selbstverständlich nichts zu tun habe, sagte sie: "Aber manche denken, weil ich Afghanin bin, dass ich böse bin."

Während Schutzsuchende zu den Verlierern der aktuellen Rhetorik werden, sitzen die Gewinner rechts außen im Bundestag. "Der AfD gelingt es seit Jahren, den Migrationsdiskurs nach rechts zu verschieben", sagt Hillje. Dass Sprache und Rhetorik dabei eine besonders wichtige Rolle spielen, verkündeten die Rechtspopulisten bereits vor Jahren selbst. "Wer Begriffe prägt, der prägt die Sprache. Wer die Sprache prägt, der prägt das Denken. Wer das Denken prägt, prägt den politischen Diskurs, und wer den politischen Diskurs prägt, der beherrscht die Politik", sagte Thüringens AfD-Chef Björn Höcke bei einer Veranstaltung im Jahr 2018.

Zombies und Kriminelle

Die Taktik trägt Früchte. So nähern sich die Parteien der Mitte rhetorisch an, erklärt Hillje. "Je nach Position und Forderungen der Parteien unterschiedlich stark." In der aktuellen Debatte fällt dabei vor allem die Union auf: Während Kanzlerkandidat Friedrich Merz Migration konstant im Kontext von Kriminalität und innerer Sicherheit bespricht, verglich CSU-Chef Markus Söder Geflüchtete an der deutschen Grenze jüngst mit Zombies. Es waren vor allem die Konservativen, die Migration ins Zentrum des Wahlkampfs rückten. Der Tenor ist dabei eindeutig: Tatendrang und Kompromisslosigkeit an der deutschen Grenze.

Merz stelle dem "Problem Migration" rhetorisch einen "Strongman" gegenüber, der den Eindruck von Sofortismus im Stile von Donald Trump erweckt, sagt Hillje. Diese Art der Kommunikation sei jetzt zwar effektiv, jedoch auch gefährlich. Zum einen stehe die tatsächliche Durchführbarkeit der versprochenen Kompromisslosigkeit "auf sehr dünnem Eis". Laufen die jetzigen Ankündigungen schlussendlich ins Leere, drohen Enttäuschungen und Frust, die am Ende wieder der AfD in die Karten spielen könnten, so der Experte. "Die demokratischen Parteien können in diesem Wettbewerb um Emotionalisierung und Instrumentalisierung des Themas Zuwanderung nur verlieren", fasste auch Rechtsextremismusforscher Matthias Quent die jüngste Debatte zusammen. "Sie tappen den Rechtsextremen sehenden Auges in die Falle", sagte er der "Tagesschau".

Zumal die AfD kaum zögern dürfte, die Grenzen des Sagbaren weiter zu verschieben. "Wenn die anderen Parteien anfangen, eine radikalere Sprache zu übernehmen, ist dies der Startschuss für die Rechtspopulisten, sich weiter zu radikalisieren", sagt Hillje. "Was wir beobachten, ist also eine Rechtsverschiebung im Gleichschritt." Damit werden Sprachinstrumentalisierung und "Klappstuhl"-Rhetorik beim Thema Migration nicht nur zur Gefahr einer humanen und fairen Debatte über den Umgang mit Schutzsuchenden, wie die Experten deutlich machten. Sie befeuern vor allem auch die antidemokratischen Kräfte des Landes.

Quelle: ntv.de

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