Wegschauen und vertuschen Das Missbrauchsdrama von Lügde
23.03.2019, 10:04 Uhr
Der Campingplatz von Lügde - hier wurden jahrelang Kinder sexuell missbraucht.
(Foto: picture alliance/dpa)
Auf dem Campingplatz von Lügde werden über Jahre hinweg Kinder missbraucht und gefilmt. Dabei ist das Jugendamt bereits vor Ort, doch alle Alarmsignale werden übersehen oder ignoriert. Die polizeilichen Ermittlungen verlaufen katastrophal.
Die Zahlen werden immer ungeheuerlicher, die Liste der Versäumnisse immer länger. Der sexuelle Missbrauch an Kindern auf einem Campingplatz im nordrhein-westfälischen Lügde begann offenbar weit früher und hatte deutlich größere Ausmaße als bisher angenommen. Außerdem versagten die Behörden beim Kinderschutz sowohl in NRW als auch im benachbarten Niedersachsen auf ganzer Linie. Und als reichte das alles nicht, gibt es nun auch noch einen handfesten Polizeiskandal mit verschwundenen Beweismitteln und wegen Kinderpornografie vorbestraften Polizisten.
Zunächst war lediglich von mehreren Opfern die Rede, inzwischen ist klar: Es sind mehr als 30. Bestätigt seien 34 Fälle, in 14 weiteren gehe man dem Verdacht noch nach, hatte Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul erst kürzlich im Landtag mitgeteilt. Seitdem sind schon wieder zwei weitere Verdachtsfälle hinzugekommen.
Die mutmaßlichen Opfer waren zum Zeitpunkt des Missbrauchs zwischen 4 und 13 Jahre alt. Die ersten Übergriffe ereigneten sich nach jetzigem Erkenntnisstand bereits 2008. Damals soll der jetzige Hauptverdächtige erstmals ein achtjähriges Mädchen missbraucht haben. Es gibt jedoch Hinweise, dass die ersten Taten möglicherweise noch früher begangen wurden, vielleicht sogar schon 2002.
Doch weder die verschiedenen Jugendämter noch die Polizei griffen bis zum Dezember 2018 ein, obwohl zumindest ab 2016 deutliche Hinweise auf sexuellen Missbrauch vorlagen, wie mittlerweile auch der zuständige Hamelner Landrat Tjark Bartels einräumte. Im Sozialausschuss des niedersächsischen Landtags sprach der SPD-Politiker davon, dass Mitarbeiter des Jugendamtes den Hauptverdächtigen offenbar vollkommen falsch einschätzten. So konnte der "komische", ein "bisschen verschrobene Typ" Kindern jahrelang weiter Gewalt antun.
Hinweise ohne Konsequenzen
Betroffene oder Menschen, die einen Missbrauch vermuten, können sich kostenfrei und anonym an das Hilfetelefon Sexueller Missbrauch wenden: 0800-22 55 530. Weitere Infos zu Beratungs- und Hilfeangeboten vor Ort gibt es unter: www.hilfeportal-missbrauch.de
Dabei gab es deutliche Alarmzeichen: Ein Hinweis sei vom Jobcenter gekommen, das den arbeitslosen mutmaßlichen Haupttäter betreute, so Bartels. Dort hatte er unangemessen über seine Pflegetochter gesprochen. Auch eine Psychologin im Kindergarten des Mädchens vermutete im September 2016 Pädophilie. Ein anderer Hinweis kam vom Kinderschutzbund, bei dem ein Vater einen konkreten Verdacht äußerte. Diese Hinweise wurden an das Jugendamt und die Polizei weitergegeben, Ermittlungen wurden jedoch nicht eingeleitet. Niedersachsens Sozialministerin Carola Reimann spricht aus, was viele denken: "Mir ist unverständlich, wie das Jugendamt Hameln-Pyrmont drei Hinweise innerhalb eines halben Jahres falsch würdigen konnte - hier zeigt sich eine fatale Fehleinschätzung."
Der Anwalt Roman von Alvensleben, der ein Opfer vertritt, hat inzwischen Einblick in die Jugendamts-Akten. "Es ist eine gruselige Situation", sagt der Hamelner Jurist. In den Akten tauche sogar das Wort Pädophilie auf. Der Landkreis Hameln-Pyrmont übertrug dem Hauptverdächtigen trotzdem die Pflegschaft für ein kleines Mädchen. Der Mann soll das Kind selbst missbraucht sowie ausgenutzt haben, um weitere Opfer anzulocken.
Das Mädchen ist nun in der Obhut des Jugendamtes, in dieser Woche wurden fünf weitere Kinder aus ihren Familien genommen. Erneut widersprechen sich der Kreis Lippe und das Innenministerium von NRW. Laut Innenministerium handelt es sich um vier Kinder eines alleinerziehenden Vaters, von denen drei Opfer des Missbrauchs auf dem Campingplatz geworden seien. Das vierte Kind sei vorsorglich in Obhut genommen worden. Der Landkreis hatte alle vier Kinder als Opfer bezeichnet. Der Vater werde schon länger der Beihilfe zum Missbrauch verdächtigt. Das fünfte in Obhut genommene Kind gehöre zu einer alleinerziehenden Mutter. Das Kind sei ebenfalls Opfer, die Mutter stehe aber nicht im Verdacht der Beihilfe. Noch immer ist längst nicht alles klar in diesem monströsen Missbrauchsfall.
Schlamperei und verschwundene Beweise
Auch die Polizei hat in dem Fall bisher alles andere als professionell gearbeitet. Inzwischen ist ein Sonderermittler der Polizei mit dem Fall befasst. Die Rede ist von schlampigen Durchsuchungen und schlechter Spurensicherung auf dem Campingplatz in Lügde. Bei der Kreispolizeibehörde Lippe, die von Mitte Dezember bis Ende Januar mit den Ermittlungen betraut war, gab es deshalb bereits Versetzungen, Suspendierungen, Strafanzeigen und Disziplinarverfahren.
Unter anderem ist ein Koffer mit 155 Datenträgern voller Beweismittel aus einer abgeschlossenen Asservatenkammer verschwunden. Die Hintergründe sind noch ungeklärt, die zuständige Staatsanwaltschaft Detmold ermittelt wegen Diebstahls. Hinzu kommen Vorwürfe gegen Polizisten wegen Strafvereitelung im Amt.
Innenminister Reul ließ in diesem Zusammenhang prüfen, inwiefern Polizisten in Missbrauchsfälle verwickelt waren. Landesweit stieß man auf 15 Fälle, in denen Ermittlungen wegen Kindesmissbrauchs oder Kinderpornografie gegen Polizisten geführt wurden. 14 Beamte wurden deshalb entweder aus dem Dienst entfernt, vorläufig des Dienstes enthoben, mit einem Verbot der Führung der Dienstgeschäfte belegt oder sind mittlerweile im Ruhestand. Weiter im Dienst blieb ausgerechnet ein vorbestrafter Polizist im Kreis Lippe.
Drei Verdächtige sitzen in Untersuchungshaft: Der 56-jährige Hauptverdächtige aus Lügde und ein 33-Jähriger aus Steinheim in Nordrhein-Westfalen sollen die Kinder auf dem Campingplatz im Wechsel missbraucht und gefilmt haben. Ein 48-Jähriger aus Stade in Niedersachsen soll Auftraggeber gewesen sein. Insgesamt liegen den Ermittlern im Fall Lügde 3.295.116 Bilder und 86.298 Videos zur Auswertung vor. Laut Sonderermittler Ingo Wünsch ist der Hauptverdächtige darauf mehrmals eindeutig zu erkennen. In diesen Zahlen ist das verschwundene Material noch nicht enthalten.
Quelle: ntv.de