Panorama

Rätselhafte Vatikan-Verbindung Der Fall Orlandi und der Tod eines Jungen

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Allzu oft führen die Spuren in den Vatikan. 1983 ist dort  Johannes Paul II. Papst.

Allzu oft führen die Spuren in den Vatikan. 1983 ist dort Johannes Paul II. Papst.

Am 20. Dezember 1983 wird der 12-jährige José Garramon tödlich überfahren. Was wirklich geschehen ist, kann nie eindeutig geklärt werden. Es könnte aber Verbindungen zum Fall Emanuela Orlandi geben, die im gleichen Jahr verschwand. Nach 40 Jahren sind noch alle Fragen unbeantwortet.

Es war der 20. Dezember 1983, als kurz vor 20 Uhr ein Busfahrer bei Castel Fusano, einer Ortschaft zwischen Rom und der Küstengemeinde Ostia, am Straßenrand ein Bündel bemerkte, das ihn zum Anhalten veranlasste. Das Bündel war ein tödlich verletzter Junge, der noch im Rettungswagen starb. Das Opfer hieß José Garramon, war 12 Jahre alt, seine Eltern kamen aus Uruguay, wo seit 1975 eine Militärdiktatur an der Macht war.

Seit diesem tragischen Vorfall sind fast auf den Tag genau 40 Jahre verstrichen. Damals wurde der 28-jährige Fotograf Marco Fassoni Accetti, eine schillernde und äußerst rätselhafte Person, wegen Totschlags und unterlassener Hilfeleistung zu 26 Monaten Haft verurteilt. Wirklich geklärt, wie es zu diesem Unfall kam, ob es überhaupt ein Unfall war und welche Rolle der Fotograf dabei spielte, wurde es aber nie.

Die Mädchen und der Fotograf

Wieder in Erinnerung gebracht hat den Fall jetzt die Wochenzeitung "Il venerdì - di Repubblica", die ihm einen dreiseitigen Artikel widmete, mit dem vielsagenden Titel "Zu viele Rätsel für den Tod eines Kindes". Es heißt ja "Alle Straßen führen nach Rom", ein Sprichwort, aus dem sich auch angesichts der hier geschilderten Fakten Folgendes ableiten ließe: "(Fast) alle Kriminalfälle der letzten 40 Jahre in und um Rom führen zum Verschwinden der 15-jährigen Emanuela Orlandi am 22. Juni 1983".

Wobei damals nicht nur Emanuela verschwand, sondern schon einige Wochen davor, am 7. Mai, auch die gleichaltrige Mirella Gregori. Wie bei Orlandi wurde auch der Fall Gregori mit dem Vatikan in Verbindung gebracht, obwohl es keine eindeutigen Anhaltspunkte dazu gab. Anders als bei Emanuela, die die Tochter eines Vatikanangestellten war. Zu den Verfechtern der These, hinter dem Verschwinden der Mädchen stehe der Vatikan, gehörte auch der Türke Mehmet Ali Ağca, der am 13. Mai 1981 das Attentat gegen Papst Johannes Paul II. verübt hatte. Jahrzehnte später bestätigte diese These der Fotograf Accetti und brachte auch den Tod des jungen Garramon ins Spiel.

Können Sie noch folgen? Wie die Wochenzeitung berichtet, war der Fotograf nach Absitzen seiner Haftstrafe für ganze 27 Jahre verschwunden, beziehungsweise hatte er nicht mehr von sich reden gemacht. Und das bis zum 27. März 2013, als der mittlerweile 58-jährige Accetti bei der Staatsanwaltschaft in Rom vorstellig wurde, um wegen Gregori und Orlandi Selbstanzeige zu erstatten. Er beschuldigte sich, Emanuela und Mirella entführt zu haben, fügte aber hinzu, dass dies einvernehmlich mit den Mädchen geschehen war, denen er versprochen hatte, sie würden in zwei Monaten wieder frei sein. Dass dies nicht geschehen sei, sei nicht seine Schuld gewesen, hob er hervor, ohne jedoch weitere Details zu liefern.

Kalter Krieg, Kreuzzüge und Operation Condor

Accetti wurde mehrmals und aufs Gründlichste verhört, wie auch aus den Protokollen der Staatsanwälte zu entnehmen sei, schreibt "Il venerdì". Er erzählte von Spannungen, Feindseligkeiten, Spionage und Gegenspionage, Machtkämpfen, die damals den Vatikan-Alltag prägten. Das Verschwinden der zwei Mädchen sollte als Erpressung und Druckmittel gegenüber dem einen oder anderen Geistlichen dienen, der in pädophile Verstrickungen involviert war. Der Fotograf behauptete auch, zu einer der damaligen Vatikanfraktionen zu gehören, weswegen man ihm den jungen Garramon als Racheakt von einer Brücke auf das Auto geschleudert habe. Das alles spielte sich während der Jahre des Kalten Krieges und der antikommunistischen Kreuzzüge von Papst Johannes Paul II. ab. Ein Detail, auf das später noch zurückgekommen werden wird.

Auf die Frage, warum er erst 2013 mit dem Geständnis herausrückte, er habe die Mädchen entführt, soll Faccetti geantwortet haben, es sei die Ernennung des jetzigen Papstes Franziskus gewesen, die ihn diese Entscheidung fällen ließ. Doch trotz der vielen und stundenlangen Verhöre wurde das Verfahren 2015 ad acta gelegt. Für die Staatsanwälte waren die Aussagen des Fotografen nicht glaubwürdig und Bestätigungen gab es keine. Vielmehr hörten sie sich wie das Skript für einen Film an.

Da aber Papst Franziskus persönlich Anfang 2023, gleich nach dem Tod seines Vorgängers Benedikt XVI. und zu aller Überraschung ankündigte, der Vatikan werde im Fall Orlandi ermitteln, und dieser Ankündigung Taten gefolgt sind, kann es gut sein, dass auch Faccettis Aussagen und somit der Fall Garramon wieder aktuell werden. Mittlerweile arbeitet der Vatikanbeauftrage mit der römischen Staatsanwaltschaft zusammen, auch wurde ein parlamentarischer Ausschuss zu den Fällen Orlandi und Gregori einberufen.

Was den Tod des Jungen betrifft, könnte dieser außerdem auch in eine weitere Richtung führen. Seine Mutter Maria Laura Bulanti erzählte vor einem Jahr der Tageszeitung "Corriere della Sera": "Man hatte diesen Marco Accetti beauftragt, uns Angst zu machen. Doch der war ein totaler Trottel und verlor die Kontrolle über die [Entführungs-] Aktion."

Auf die Frage, warum man ihr und ihrem Mann, der ein Funktionär beim Internationalen Fonds für Agrarentwicklung (IFAD) der UNO war, Angst machen wollte und wer die Auftraggeber gewesen seien, antwortete sie mit dem Hinweis auf die "Operation Condor". Damit ist die Zusammenarbeit verschiedener südamerikanischer Geheimdienste mit den USA in den 70er und 80er Jahren gemeint, deren Aufgabe es war, linke Oppositionelle zu verfolgen, zu foltern und verschwinden zu lassen. "Und auch wir, also mein Mann und ich, gehörten zu den Oppositionellen."

Accetti sei wahrscheinlich über das internationale faschistische Netzwerk beauftragt worden, die Garramons so zu erschrecken, dass ihnen die Lust zum Protestieren und Denunzieren vergehen würde. Etwas muss aber schiefgelaufen sein und das kostete den Jungen das Leben. Was schiefgelaufen ist, warum ihr Junge sterben musste, will die Mutter endlich wissen.

Quelle: ntv.de

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