Die Familie des Vatican-Girl Pietro Orlandi gibt seine Schwester Emanuela nicht auf


Pietro Orlandi in Rom, im Hintergrund die Kuppel des Petersdoms.
(Foto: Andrea Affaticati)
Seit 40 Jahren sucht Pietro Orlandi nach seiner Schwester Emanuela und der Wahrheit. Bei einem Treffen in Rom erzählt er von seiner Kindheit in den Gärten des Vatikans, seiner Beziehung zum Papst und Chopins Nocturne, das er mit Emanuela gerne zu Ende spielen würde.
Die Verabredung mit Pietro Orlandi in Rom ist in der Via della Conciliazione, der Straße, die mit Castel Sant'Angelo im Rücken schnurstracks zum Petersplatz führt. Passt perfekt, Orlandi und im Hintergrund die Kuppel des Petersdoms. Immerhin wirft der Vatikan seit 40 Jahren seine Schatten auf die Familie Orlandi, hütet wer weiß welche Geheimnisse über das Verschwinden seiner Schwester Emanuela an einem Sommerabend vor genau 40 Jahren.
Das Fernsehen täuscht nicht selten. Es schafft auch Sorgenfalten zu glätten, weswegen man beim persönlichen Treffen einen Mann erwartet hätte, dass ihm der jahrzehntelange Kampf für die Aufklärung des Schicksals seiner Schwester anzusehen ist. Dem ist aber nicht so. Pietro Orlandi hat eine angenehme Ausstrahlung, seine grünen Augen blicken freundlich. Er ist 64 Jahre alt, doch trotz schlohweißem, etwas längerem Haar würde man ihn um mehrere Jahre jünger schätzen.
Auf die Frage, wie sehr das Schicksal seiner Schwester sein Leben geprägt hat, antwortet er im Gespräch mit ntv.de: "Maßgeblich. Aber ich führe diesen Kampf nicht alleine." Er sei zwar derjenige, der immer im Fernsehen und bei den Pressekonferenzen zu sehen ist. Hinter ihm stünden aber seine ganze Ursprungsfamilie sowie seine Frau und seine sechs Kinder. "Ohne sie hätte ich irgendwann das Gleichgewicht verloren." Seine Kinder sind alle schon erwachsen, abgesehen von der Jüngsten, die 16 Jahre alt ist. Sie begleiten ihn auch oft zu Terminen. "Was aber nicht heißt, dass ich ihnen die Bürde von Emanuelas Schicksal auferlegt habe. Sie sind einfach mit dieser Tante, die eben wer weiß wo ist, aufgewachsen. Als sie noch Kinder waren und im Fernsehen über Emanuela berichtet wurde, riefen sie: 'Papa die Tante ist im Fernsehen'."
Der Papst war wie ein Papa
An seine Kindheit hinter den Vatikanmauern erinnert sich Orlandi gerne. "Damals wohnten an die sechs, sieben Familien im Vatikanstaat. Die Vatikanischen Gärten waren für uns Kinder mehr oder weniger unser Spielplatz." Ab und zu sei auch ein Papst vorbeigekommen, habe bei ihnen Halt gemacht und ein paar nette Worte gewechselt. Der erste Papst, den er persönlich kennenlernte, war Johannes XXIII.
Durch diese gelebte päpstliche Alltäglichkeit fehlt Orlandi die Ehrfurcht, die andere vor dem Oberhaupt der katholischen Kirche haben. "Der Papst war für mich vielmehr Teil der Familie, weswegen mich der Verrat umso härter getroffen hat." Dass weder Papst Johannes Paul der II. noch Papst Benedikt XVI. etwas unternommen haben, um die Wahrheit über seine Schwester ans Licht kommen zu lassen, kann er nicht verstehen.
Mit der Heirat verlor Orlandi die vatikanische Staatsbürgerschaft, wurde, um es metaphorisch auszudrücken, 'aus den Gärten des Vatikans vertrieben' und lebt seitdem als ganz normaler italienischer Bürger in der Ewigen Stadt. Was wiederum bedeutet, dass die Orlandi-Dynastie im Vatikanstaat zu Ende gegangen ist. Der erste Orlandi, der sich im Vatikanstaat einquartierte, war sein Großvater Pietro, der Anfang der 1920er-Jahre einzog und sowohl Papst Pius XI. als auch Papst Pius XII. diente. Er war für Pferde und Kutschen zuständig.
Pietro Orlandis Mutter lebt noch immer im Vatikan. Wenn ihn ab und zu jemand fragt, warum sie nicht ausgezogen ist, antwortet er: "Warum sollte sie? Außerdem wäre das jetzt, wo sie 93 Jahre alt ist, sowieso nicht mehr machbar." "Physisch ist sie noch ganz fit" sagt er, "aber sie wird zunehmend vergesslicher. Ein und dieselbe Frage kann sie in kurzen Abständen mehrmals wiederholen. Ihre Tochter Emanuela hat sie aber nicht vergessen, und fragt immer wieder: 'Warum hat man sie uns weggenommen?', 'Wo hat man sie hingebracht?'." Die nicht so guten Nachrichten versucht die Familie von ihr fernzuhalten. Und schnappt sie doch etwas auf, so vergisst sie es zum Glück schnell wieder.
Marcinkus wollte ihn nicht in der Vatikanbank
Einige Monate nach Emanuelas Verschwinden hatte Johannes Paul II. der Familie Orlandi einen Besuch abgestattet. Der Papst war der Meinung, dass dahinter eine terroristische Organisation stehe. Er versprach, er werde alle Hebel in Bewegung setzen, um die Wahrheit herauszufinden. Die Vermutung einer Terrororganisation als Strippenzieher hatte wahrscheinlich noch mit dem Attentat zu tun, das am 13. Mai 1981 auf dem Petersplatz gegen ihn verübt worden war.
Als seine Schwester verschwand, war Pietro Orlandi 24 Jahre alt, er wurde von den Geschehnissen ziemlich aus der Bahn geworfen. "Da wandte sich dann der Papst mir zu und fragte mich: 'Was willst du eigentlich machen, willst du ein Bankier des Papst werden?' Mir war damals alles egal, aber ich wusste, für meinen Vater war es wichtig, mich fest angestellt zu wissen." Also sagte er zu. "Ich bin wahrscheinlich der von höchstem Amt auserwählte Protegé."
Wer ihn aber absolut nicht haben wollte, war der US-Erzbischof Casimir Marcinkus, der damalige Direktor der Vatikanbank IOR, und - wie später bekannt wurde - eine schillernde Gestalt mit noch fragwürdigeren Freunden und Geschäftspartnern. Bei den Ermittlungen im Fall Emanuela Orlandi hieß es irgendwann auch, Marcinkus habe den Tod des Mädchens angeordnet. Der Papst bestand aber darauf, dass Orlandi als Angestellter in der Bank arbeitet, und das tat er dann 30 Jahre lang. Vor zehn Jahren wurde er infolge von Personalkürzungen frühpensioniert.
Im Vatikan mangelt es an Wahrheit und Gerechtigkeit
Orlandi spricht gern über sein Verhältnis mit Emanuela. Das merkt man daran, dass es sich anhört, als würden die Ereignisse, über die er erzählt, erst vor kurzem stattgefunden haben. "In der Tat habe ich, was meine Schwester betrifft, das Zeitgefühl verloren." Er verstand sich gut mit ihr, trotz der neun Jahre Altersunterschied und den unterschiedlichen Vorlieben, zum Beispiel was die Musik betraf. Sie spielte Querflöte und Klavier, hörte klassische Musik oder "italienische Schnulzen". Er liebte Led Zeppelin, Pink Floyd, die Sex Pistols. "Sie nahm mich immer wieder auf den Arm und sagte: 'Eines Tages werde ich so berühmt sein, dass ich in allen Zeitungen stehe.' Sie hat recht behalten, wenn auch nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatte", sagt der Bruder und senkt dabei etwas die Stimme.
Ob ihm das Schicksal seiner Schwester den Glauben genommen habe? "Eigentlich habe ich mir darüber nie wirklich Gedanken gemacht", antwortet er nach kurzem Überlegen. Aber eine andere Frage habe ihn lange beschäftigt. "Wenn der Vatikan das Zentrum des Katholizismus' ist und der Papst der Stellvertreter Christi auf Erden, wie kann es sein, dass gerade die christlichen Gebote von Wahrheit und Gerechtigkeit es nicht geschafft haben, die Mauern des Vatikans zu durchdringen?"
Schön wäre es, wenn eines Tages die Tür aufginge und Emanuela vor ihm stünde, sagt er. Sie würden sich wie früher zusammen ans Klavier setzen und Emanuela würde ihm weiter Chopins Nocturne auf dem Klavier beibringen. Das ist ein Wunschtraum, dessen ist sich der Bruder bewusst.
Nach all diesen Jahren, Rückschlägen, Mutmaßungen und Spekulationen, nach all diesen Büchern, die nicht zur Wahrheit geführt haben, sondern nur zu noch mehr Spekulationen, hört man in Orlandis Stimme weder Verbitterung noch Zynismus. Aber auch nicht die geringste Versuchung, mit dem Kapitel Emanuela abzuschließen.
Quelle: ntv.de