Einfach mal kein Alkohol? Warum die Normalität des Trinkens so gefährlich ist


Laut der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen konsumieren hierzulande 7,9 Millionen Menschen Alkohol in gesundheitlich riskanter Form.
(Foto: picture alliance / Sipa USA)
Zum Essen ein Glas Wein, ein Bier zum Feierabend, am Wochenende auch mal ein paar mehr: Alkohol ist fest in der Gesellschaft verankert. Doch ist das noch Genuss oder schon Abhängigkeit? Ein Mediziner mahnt: Die Sucht beginnt früher, als viele denken.
Die Gesundheitskampagne "Dry January" ("trockener Januar") ruft dazu auf, ab Neujahr einen Monat lang auf Alkohol zu verzichten, und ist mittlerweile vielen ein Begriff. Mit dem "Sober October" ("nüchterner Oktober") gibt es aber noch einen weiteren Aktionsmonat, der für Abstinenz am Glas wirbt.
Für den Mediziner Dr. Gernot Rücker sind solche Kampagnen gute erste Schritte, um auf die Gefahren von Alkoholkonsum hinzuweisen, wie er im ntv.de-Interview erklärt. Der Notarzt und Anästhesist forscht seit vielen Jahren zum Thema Rausch und plädiert für einen strengeren Blick auf Alkohol als Genuss- und Rauschmittel.
Man dürfe nur nicht glauben, dass es mit einem Monat Nüchternheit getan sei, und dann wieder regelmäßig zur Flasche greifen: "Man sollte sich an 365 Tagen im Jahr fragen 'Brauche ich in dieser Situation ein alkoholisches Getränk?' Und klar ist, dass in der Regel auch eine nicht alkoholische Alternative geht."
Auch Mia Gatow steht "Sober October", "Dry January" und Co skeptisch gegenüber. Die Berliner Autorin lebt seit sieben Jahren komplett nüchtern und hat die Geschichte ihrer eigenen Alkoholsucht in dem Buch "Rausch und Klarheit" dokumentiert. Sie kennt das Reglementieren und Aufteilen des Trinkens selbst und verrät im Gespräch mit ntv.de: "Ich habe auch mal vier Wochen lang nichts getrunken, um mir zu beweisen, dass ich keine Alkoholikerin bin. Und darum durfte ich dann offensichtlich weitertrinken. Das war meine Logik."
Laut Rücker sind solche Muster ein klarer Hinweis darauf, dass ein problematischer Konsum vorliegt: "Wer sich fürs Trinken Regeln aufstellen muss, ist bereits Alkoholiker." Und auch Gatow sagt im Nachhinein, dass die phasenweise Trockenheit nur ein Mittel war, um die Sucht zu rechtfertigen: "Ich habe die Trinkpausen strategisch eingelegt, um mir selbst zu beweisen, dass ich kein Problem habe."
"Deutschland ist eine Alkoholdiktatur"
Ein Blick auf die Zahlen verrät, dass die Berlinerin mit diesem Problem nicht allein ist. Laut der Aktionswoche Alkohol sind rund 1,77 Millionen Deutsche im Alter zwischen 18 und 64 Jahren alkoholabhängig. Aus dem Jahrbuch Sucht 2024 der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) geht hervor, dass etwa 7,9 Millionen Deutsche dieser Altersgruppe Alkohol in gesundheitlich riskanter Form konsumieren. Schätzungen des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ) gehen davon aus, dass jährlich über 40.000 Menschen in Deutschland vorzeitig an den Folgen ihres Alkoholkonsums sterben.
Die Folgen des riskanten Trinkens bekommt Rücker bei seiner Arbeit als Notfallmediziner alltäglich zu spüren: "Jeder fünfte Rettungsdienst-Einsatz hat etwas mit Alkohol zu tun. Wenn sich jemand totgefahren hat, bin ich derjenige, der die Todesnachricht überbringen muss." Dass trotz der hohen Zahl alkoholbezogener Verkehrsunfälle und "rund 60.000 besoffenen Autofahrern täglich" noch Schnaps und andere Getränke in Tankstellen verkauft werden, beschreibt Rücker als "nicht hinnehmbar".
Doch es sind eben nicht nur die Tankstellen, sondern auch die Kassenbereiche von Supermärkten und Kiosken, die Fußballspiele, Geburtstage und Familienfeiern, von denen der Alkohol nicht wegzudenken scheint. Und regelmäßig ist er Zündstoff für Konflikte: "Bei fast jedem Dorf- oder Schützenfest gibt es Schlägereien mit Kopfplatzwunden. Von Vergewaltigungen gar nicht zu sprechen. Und trotzdem ist diese Droge in Deutschland so stark vorgegeben - das ist eine Alkoholdiktatur", sagt Rücker.
"Wer jeden Tag trinkt, ist Alkoholiker"
Für Gatow gab es nie den einen Unfall oder das eine Extremerlebnis im Rausch, das sie auf ihr Alkoholproblem aufmerksam machte. Sie beschreibt die Sucht eher als einen schleichenden Prozess, ein Alltäglichwerden des Trinkens. "Es hat immer mehr Raum eingenommen in meinem Leben und mich immer mehr gestört. Ich habe versucht, das Trinken zu kontrollieren, es aber nie wirklich geschafft. Irgendwann hatte ich die Kontrolle über mein eigenes Leben verloren."
Und trotzdem habe sie es immer geschafft, dass das Trinken anderen nicht aufgefallen ist - eben weil das Feierabendbier, der Wein zum Essen, der Sekt zum Anstoßen und die Trinkgelage am Wochenende so normal sind. "Unser gesamtgesellschaftliches Trinken ist auf einem so hohen Niveau, dass wir uns die ganze Zeit einreden können 'Die anderen machen das ja auch.'"
Die Berlinerin setzt sich deshalb dafür ein, den Begriff der Alkoholikerin und des Alkoholikers aus einer Tabu-Zone zu holen, zu entstigmatisieren und auch neu zu denken. In der Gesellschaft habe sich ein bestimmtes, sehr krasses Bild von Alkoholismus verfestigt, nämlich das "von Leuten, die alles verloren haben und die mit zitternden Händen auf der Straße leben. Dabei sieht die Mehrheit der alkoholkranken Menschen aus wie du und ich, hat Jobs und Kinder, Freunde und Partner und geht zur Arbeit."
Auch Rücker mahnt, sich von der medial geprägten Klischeevorstellung des Alkoholikers zu verabschieden und den Begriff viel breiter anzuwenden. Egal, ob "nur" ein Bier oder "nur" ein Glas Wein: "Wer jeden Tag trinkt, ist Alkoholiker."
"Trinken ist Mainstream, Nüchternheit ist Rebellion"
Doch was sollte man tun, wenn man bei sich selbst oder bei einer nahestehenden Person problematische Konsummuster beobachtet? Rücker rät zu Transparenz und Ehrlichkeit: "Man kann sich der Familie oder guten Freunden öffnen. Aber es gibt auch Firmen, in denen Hilfsprogramme für Suchtkranke angeboten werden. In solchen Fällen kann man auch ein vertrauliches Gespräch mit dem Arbeitgeber führen." Gibt es ein solches Angebot nicht, sollte man sich am besten professionelle Hilfe in Form einer Therapie suchen, beispielsweise bei der Deutschen Suchthilfe. Möchte man jemand anderes auf das Trinken ansprechen, sollte man dies tun, wenn die Person nüchtern ist: "Das Dümmste, was man machen kann, ist, einen Alkoholiker während des Konsums mit seinem Konsum zu konfrontieren."
Als Gatow ihren Freundinnen und Freunden von ihrer Alkoholsucht und dem Schritt zur Abstinenz erzählte, sei die Reaktion größtenteils positiv und sehr verständnisvoll ausgefallen: "Die meisten haben das akzeptiert und gesagt 'cool, dass du nicht mehr trinkst, dann trinken wir jetzt halt Kaffee oder Wasser.'" Doch es gebe auch Leute, die irritiert reagiert hätten - "womöglich, weil sie über ihr eigenes problematisches Konsummuster gestolpert sind".
Für die Berlinerin war die Auseinandersetzung mit der Alkoholabhängigkeit und der Schritt zur Nüchternheit eine Art Befreiungsschlag, der ihr ganzes Leben verändert hat: "Zunächst gibt es da die kurzfristigen Verbesserungen. Der Schlaf wird besser, die Haut auch, man hat mehr Energie und ist besser drauf. Doch langfristig verändert sich noch viel mehr, man wird zu einer krisenfesteren und vertrauenswürdigeren Person. Mit der Nüchternheit kommt eine gewisse Souveränität. Das ist das Beste daran."
Sie habe sich jedoch auch von früheren Vorstellungen über sich selbst verabschieden und sich selbst neu entdecken müssen: "Früher dachte ich, ich wäre rebellisch, wenn ich trinke. Doch dann habe ich verstanden, dass das fast alle tun. Trinken ist also Mainstream, Nüchternheit ist Rebellion."
Wer den Oktober über die Finger vom Alkohol lassen möchte, dem rät die Autorin, die Trinkpause zu verlängern und die mittel- und langfristigen Veränderungen abzuwarten: "Wenn ich gewusst hätte, wie gut sich das anfühlt und was man dadurch alles gewinnt, hätte ich schon viel früher mit dem Trinken aufgehört."
Quelle: ntv.de