Panorama

Unerträgliche Haftbedingungen Italiens Gefängnisse haben alarmierende Suizidraten

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Mailands Gefängnis San Vittore ist dramatisch überbelegt.

Mailands Gefängnis San Vittore ist dramatisch überbelegt.

(Foto: REUTERS)

Italiens Gefängnisse sind eine Katastrophe. Staatspräsident Mattarella spricht bereits von einer Notlage. Die entwürdigenden Haftbedingungen und die restlos überfüllten Zellen treiben viele Inhaftierte zum Äußersten.

Die Gefängnisse in Italien sind überfüllt, unmenschlich und tödlich, die Suizidrate unter Inhaftierten fünfmal höher als bei freien Bürgern. 2024 nahmen sich zwischen 83 und 91 Häftlinge das Leben - die genaue Zahl ist noch unklar, weil die Ermittlungen in einigen Fällen andauern.

Diese dramatischen Zahlen nennt der Verband "Antigone", der seit seiner Gründung im Jahr 1991 regelmäßig in die Strafanstalten geht und dort die Zustände prüft, um dann einen jährlichen Bericht zu verfassen.

Ursachen, die zu diesem Akt der Verzweiflung führen, gibt es viele. Ein Hauptgrund ist aber definitiv die Überfüllung der Haftanstalten. Sie sind dramatisch überbelegt. Wer in Italien im Gefängnis sitzt, verbüßt nicht nur eine Strafe – er verliert häufig auch seine Würde.

Keine Luft zum Atmen

Den Missstand greift Italiens Staatsoberhaupt Sergio Mattarella auf, wann immer sich die Gelegenheit bietet. Dabei weist er auf Artikel 27 des Grundgesetzes hin, indem steht, dass eine Strafe nie gegen das Prinzip der Menschlichkeit verstoßen darf. Und weiter, dass das Ziel einer Strafvollstreckung sein muss, den Betroffenen wieder auf den rechten Weg zu bringen. Beides ist jedoch unter diesen Bedingungen kaum umsetzbar.

Das Problem der Suizide ist mittlerweile so dramatisch, dass sich Mattarella Anfang dieser Woche direkt dazu äußerte. "Hier geht es um eine regelrechte Notlage, die sofort behoben werden muss", mahnte er die Politiker.

Wie unerträglich und unwürdig die Bedingungen sind, ist im aktuellen Antigone-Bericht festgehalten. Die im Mai vorgelegte Studie trägt die Überschrift "Senza respiro", auf Deutsch atemlos.

Ende April 2025 befanden sich in den 189 italienischen Gefängnissen 62.445 Häftlinge; die effektive Kapazität liegt aber bei 51.280 Insassen. Außerdem müssen von dieser Zahl 4500 Plätze abgezogen werden, weil etliche Zellen momentan nicht belegbar sind.

Das heißt, dass die Haftanstalten im Durchschnitt etwa ein Drittel überbelegt sind; 58 sogar noch mehr. Senza respiro könnte man demnach auch mit "Keine Luft zum Atmen" übersetzen. In der Mailänder Haftanstalt San Vittore, mitten in der lombardischen Metropole, ist die Überbelastung landesweit am höchsten: 220 Prozent. Dort kam es kürzlich zum 36. Suizid in diesem Jahr: Ein 23 Jahre junger Mann nahm sich das Leben.

Knappe drei Quadratmeter

Gibt es keine Vorschriften, die die Haftbedingungen regeln? Natürlich gibt es die. Sie schreiben zum Beispiel vor, dass ein Häftling in einer Einzelzelle über neun Quadratmeter verfügen muss, in einer Gemeinschaftszelle sind es sieben. Die Realität ist jedoch eine andere. Laut Antigone verfügt mehr als ein Drittel der Insassen nicht einmal über die drei Quadratmeter, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EUGM) als Minimum ansieht. Weniger seien "menschenunwürdig und erniedrigend", heißt es von EUGM. Hinzu kommt, dass es in 45 Prozent der Zellen kein Warmwasser gibt und in mehr als der Hälfte auch keine Duschen.

Wie es sich unter diesen Umständen bei der bestehenden Hitzewelle in den Zellen lebt, hat der rechts-außen-stehende Politiker Gianni Alemanno, der ehemalige Bürgermeister von Rom, seine ehemaligen Kollegen in einem Brief wissen lassen. Er sitzt nämlich wegen Korruption im römischen Gefängnis von Rebibbia.

Im Brief beklagt er, "nicht nur die Schande der Überbelegung, jetzt kommt auch die kochende Hitze hinzu (...) während die Politik unter den Klimaanlagen schläft. (...) Sie schläft und verschläft die immer zahlreicheren Proteste."

Laut Ombudsmann sind im vergangenen Jahr Hunger- und Durststreiks um 35 Prozent im Vergleich zu 2023 gestiegen. Die Weigerungen, in die Zelle zurückzugehen, nahmen um 64 Prozent zu.

Platzmangel bringt kleinen Straferlass

Bei den Protesten und Verweigerungen kommt es auch zu gewalttätigen Angriffen auf das Gefängnispersonal. Zum Schutz des Personals wurde vor einer Woche ein Gesetz verabschiedet, das auch passiven Widerstand mit einer längeren Haftstrafe ahndet.

In der Vergangenheit wurde Italien wegen der mehr als prekären Haftbedingungen bereits mehrmals vom EUGM ermahnt. Dem Land drohen hohe Geldstrafen, wenn sich nichts etwas zum Besseren ändert. "Also wurde Ende 2013 das Instrument des Schadenersatzes eingeführt", erklärt Alessio Scandurra ntv.de. Er beschäftigt sich beim Verband Antigone mit Haftbedingungen. "Mit diesem Instrument des Schadenersatzes kann eine Anzeige wegen unwürdiger Bedingungen die Haftzeit verkürzen. Man kann sich aber nicht mehr an Straßburg wenden, sondern muss die Klage dem Vollzugsrichter unterbreiten."

Die dramatische Lage, in der sich die italienischen Haftanstalten befinden, ist auf Versäumnisse der Vergangenheit zurückzuführen, und somit auf Regierungskoalitionen verschiedener Parteien. Die jetzige Rechts-Mitte-Regierung hatte gute Vorsätze. In zwei Jahren sollte es 7000 neue Plätze geben. Die Kosten waren auch schon berechnet: 236 Millionen Euro.

Mittlerweile ist aber nur noch von 16 Fertigbaumodulen die Rede, die bis Januar 2026 geliefert werden sollen. Jedes Modul hat Platz für 24 Häftlinge und kann dorthin gebracht werden, wo es gebraucht wird. Insgesamt gibt es dadurch 400 Plätze zusätzlich. Dass damit das Problem nicht einmal ansatzweise gelöst wird, liegt auf der Hand. Die Opposition plädiert für alternative Strafmaßnahmen und schließt auch eine Amnestie nicht aus. Die Regierung verabschiedet stattdessen neue Gesetze, die noch mehr Menschen hinter Gitter bringen könnten.

Quelle: ntv.de

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