Im Herbst droht "viraler Orkan" Kekulé nennt Lockerungspläne "hochriskant"
06.05.2020, 10:49 Uhr
"Insbesondere die Öffnung von Kindertagesstätten und Grundschulen ist zwangsläufig mit einer Zunahme der epidemischen Aktivität verbunden", warnt Kekulé.
(Foto: imago images/Klaus W. Schmidt)
Die bevorstehenden Lockerungen in der Corona-Krise kommen für den Virologen Alexander Kekulé zu schnell. Er bezeichnet die Strategie der Bundesregierung als "hochriskant". Ihm fehlen alternative Schutzmaßnahmen, da mit Medikamenten und Impfstoffen in naher Zukunft nicht zu rechnen sei.
Der Virologe Alexander Kekulé hat die bevorstehenden Lockerungen in einem Gastbeitrag für die "Zeit" als "hochriskant" bezeichnet. Der 61-Jährige nennt als Grund für seine Kritik das Fehlen alternativer Schutzmaßnahmen. Erst wenn diese vorhanden seien, dürfe die Politik die Kontaktbeschränkungen lockern.
"Der Lockdown ist im Begriff, unser wirtschaftliches, soziales und politisches Leben zu zerstören", schreibt Kekulé, das Konzept der Eingriffe in Intervallen halte er jedoch für "brandgefährlich". Damit bezieht sich der Virologe auf den Plan der Bundesregierung, ab einer bestimmten Obergrenze der Infiziertenzahlen, die Kontaktbeschränkungen auf regionaler Ebene wieder zu verschärfen. Die Methode "Beschleunigen und Bremsen" sei ethisch nicht unproblematisch. "Durch die Lockerungen setzt die Politik de facto Menschen einem erhöhten Infektionsrisiko aus, ohne dies offen zu kommunizieren", kritisiert Kekulé. Da Risikopersonen und insbesondere Alte nicht konsequent geschützt würden, tragen sie ein höheres Risiko als die jüngere Bevölkerung, die überproportional von den Freiheiten profitiere.
Für die ältere Bevölkerung und Risikogruppen gebe es laut Kekulé auch kein echtes Schutzkonzept, weil immer wieder auf eine mögliche Einschränkung der Grundrechte verwiesen werde. Dabei könnten seiner Ansicht nach entsprechende Hygienekonzepte in Altenheimen und spezielle Infektionsschutzmasken den notwendigen Schutz der Risikogruppen gewährleisten.
Die Kontaktbeschränkungen jetzt zu lockern, ohne zuvor ein anderes Schutzkonzept einzurichten, werde zu einem Anstieg der Neuinfektionen und Todesfälle führen, so Kekulé. "Insbesondere die Öffnung von Kindertagesstätten und Grundschulen ist zwangsläufig mit einer Zunahme der epidemischen Aktivität verbunden. Kinder in diesem Alter durch Mundschutz und Hygieneerziehung vor Infektionen zu schützen, ist illusorisch und hätte das Potenzial, eine ganze Generation psychisch zu traumatisieren", schreibt er. Die fast gleichzeitige Lockerung in der Gastronomie und im Einzelhandel bezeichnet er zudem als "Wagnis".
Kekulé ist sich sicher, dass das Coronavirus noch über Monate oder Jahre auf dem Erdball zirkulieren wird und in Deutschland wieder in einer zweiten Welle auftreten kann. Er verweist in seinem Gastbeitrag darauf, dass Deutschland bei der Pandemieentwicklung großes Glück gehabt habe. Er warnt zudem, dass "aus fehlender Immunität, vernachlässigtem Social Distancing und unzureichendem Schutz der Risikogruppen" im Herbst ein "viraler Orkan" entstehen könnte. Denn bis dahin werde es "keine Herdenimmunität, keinen Impfstoff und wahrscheinlich auch keine lebensrettende Therapie geben".
Das mutmaßliche Wundermedikament Remdesivir sei bislang noch nicht ausreichend getestet worden. Die entscheidende Frage, ob das Mittel Schwerstkranken das Leben retten kann, sei noch vollkommen offen. Auch die Impfstofftypen, die zurzeit getestet werden, müssten erst zeitaufwendige Sicherheitsprüfungen durchlaufen, bevor sie für den Massenmarkt freigegeben werden.
Dabei verweist der Virologe noch auf eine weitere Problematik. Zwar hätten Länder wie Indien, China und die USA bereits damit begonnen, die nötigen Produktionsstätten zu errichten, es stehe aber "außer Zweifel", dass diese Länder zunächst ihren Eigenbedarf decken werden. "Bis Covid-19 in Europa durch eine Impfkampagne eingedämmt werden kann, werden mindestens eineinhalb Jahre vergehen - es könnte aber auch wesentlich länger dauern", so Kekulé.
Quelle: ntv.de, mba