Panorama

Missglückte Strafverschärfung Kinderpornografie-Tatbestand trifft oft die Falschen

00:00
Diese Audioversion wurde künstlich generiert. Mehr Infos
Immer häufiger sind jene, die Bilder oder Videos mit kinderpornografischen Inhalten verschicken, selbst noch minderjährig.

Immer häufiger sind jene, die Bilder oder Videos mit kinderpornografischen Inhalten verschicken, selbst noch minderjährig.

(Foto: picture alliance / dpa)

2021 zieht der Gesetzgeber die Strafen für den Besitz und die Verbreitung von Kinderpornografie deutlich an - Bagatelldelikte gibt es nicht mehr. Das führt zu teilweise absurden Ermittlungen: In den Fokus rücken immer öfter besorgte Eltern oder Minderjährige.

Es gibt keinen Teil im Strafgesetzbuch, der in den vergangenen Jahren stärker verschärft wurde als das Sexualstrafrecht. Seit der großen Reform 2016 etwa sind alle sexuellen Handlungen gegen den Willen einer Person strafbar - unabhängig davon, ob es dabei zu Gewalt kam oder nicht. Besonders deutlich ist der Tenor auch beim Schutz der Kleinsten: Wer Minderjährige missbraucht, wer Bilder oder Videos davon besitzt oder gar verbreitet, muss die harte Hand des Staates zu spüren bekommen.

Vor rund zwei Jahren schraubte die Große Koalition die Mindestfreiheitsstrafe für Kindesmissbrauch daher auf ein Jahr hoch - ebenso wie die Strafe für den Besitz und die Verbreitung von Kinderpornografie. Dass der Gesetzgeber die sexuelle Selbstbestimmung und den Schutz von Kindern in den Fokus stellt, ist ein wichtiger Schritt. Allerdings ist der Trend zu härteren Strafen nicht die Universallösung. Im Gegenteil: Einige Strafverschärfungen schießen weit über das Ziel hinaus.

So wird die Kritik an den Kinderpornografie-Tatbeständen, Paragraf 184b des Strafgesetzbuches, immer lauter. Denn ein Jahr Mindestfreiheitsstrafe bedeutet konkret: Wer ein Video oder ein Bild besitzt oder in den Umlauf bringt, das einen Missbrauchsfall, ein Kind in aufreizender Pose oder seine Genitalien zeigt, macht sich nicht mehr nur wegen eines Vergehens strafbar. Wer eine solche Datei auf seinem Computer, seinem Smartphone oder ausgedruckt in der Tasche hat, sie gar weiterschickt, ist ein Verbrecher.

Tatbestand trifft die Falschen

Richter und Anwälte prognostizierten schon früh, nun keinen Spielraum mehr für weniger schwere Fälle zu haben. Doch ihre Warnungen liefen ins Leere. Besonders leichte Fälle gebe es bei Missbrauchsdarstellungen nicht, hielt etwa der damalige CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak dagegen. Knapp zwei Jahre später machen Rechtspolitiker der Ampelparteien eine Rolle rückwärts: Der verschärfte Paragraf sei unverhältnismäßig und unflexibel - dieser Fehler müsse schnellstmöglich korrigiert werden.

Denn in vielen Fällen trifft der Tatbestand die Falschen. Wo die Politik pädophilen Kriminellen den Kampf ansagen wollte, sind fast die Hälfte derjenigen, die Bilder von nackten Minderjährigen verschicken, selbst noch nicht volljährig. Das zeigt eine Statistik der Polizeibehörden aus Bund und Ländern. Stichwort ist das sogenannte Sexting: Kinder und Jugendliche schicken sich Nacktbilder über Whatsapp, Telegram, Snapchat oder Instagram. Ein 14-Jähriger teilt das Foto seiner jüngeren Klassenkameradin in Unterwäsche im Gruppenchat, aus Spaß oder aus Rache nach dem Ende ihrer Beziehung. Dabei ahnt kaum einer von ihnen das Unrecht dieses Posts, geschweige denn seine Tragweite.

Auch die Schulhoffälle fallen in die Tatbestände der Kinderpornografie. Vor der Strafverschärfung hatten die Behörden allerdings die Möglichkeit, darauf flexibel zu reagieren. "Niederschwellige Fälle, die aufgrund von digitaler Naivität entstanden sind, konnten wegen Geringfügigkeit eingestellt werden", erklärt die Fachanwältin für Strafrecht Manon Heindorf im Gespräch mit ntv.de. Auch ein Strafbefehl kam bei Angelegenheiten mit wenigen Bildern in Betracht. Eine mündliche Hauptverhandlung sei dann grundsätzlich nicht notwendig - der Strafbefehl enthalte neben der Anschuldigung bereits eine angemessene Strafe.

"Gibt nur noch Freispruch oder Verurteilung"

"Das ist nun nicht mehr möglich", sagt die Rechtsanwältin. Denn diese Möglichkeiten sieht das Gesetz nur bei Vergehen vor, nicht bei Verbrechen. Ob pädokrimineller Hintergrund oder nicht, so Heindorf, die Staatsanwaltschaft muss Anklage erheben. "Nun gibt es nur noch Freispruch oder Verurteilung."

Manon Heindorf ist Fachanwältin für Strafrecht in Essen.

Manon Heindorf ist Fachanwältin für Strafrecht in Essen.

(Foto: Privat)

Bei Kindern und Jugendlichen, die sich vermeintlich "lustige" kinderpornografische Bilder oder Videos schicken, wird das kaum zu einer Freiheitsstrafe führen, da das Jugendstrafgesetz flexibel auf solche Fälle reagieren kann. Heindorf weist jedoch auf ein anderes Problem in diesem Zusammenhang hin. "Völlig absurd sind solche Fälle, in denen besorgte Mütter, Väter oder Lehrer als Mandanten bei mir sitzen." Es komme nicht selten vor, dass Eltern oder Betreuer ein Foto oder Video mit kinderpornografischem Material in Schülergruppen finden und zum Beweis ein Screenshot davon machen. "Schon das ist Besitz von Kinderpornografie", sagt die Anwältin. "Wenn sie dann noch andere Eltern informieren, womöglich, indem sie das Bild in die Eltern-Whatsapp-Gruppe schicken, sind wir bei der Verbreitung von Kinderpornografie."

Noch schneller rutschen solche Gruppenmitglieder in die Strafbarkeit, wenn das Smartphone Dateien aus Chatnachrichten automatisch speichert. Im Zweifel bekommen die Eltern oder Lehrer dann nicht einmal etwas davon mit, dass sie in den Besitz von Kinderpornografie kommen, erklärt die Strafrechtlerin. Werden die Dateien nach Kenntnisnahme sodann nicht sofort gelöscht, droht trotzdem eine Verurteilung: "Und zwar zu mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe, denn alles andere wäre Rechtsbeugung."

Tückische Beweismittel

Die Strafverschärfung führt zu lebensfremden Ergebnissen, die von der Großen Koalition so nicht gewollt sein konnten. Denn grundsätzlich ist das Strafrecht die ultima ratio - es sollte nur dann zum Zuge kommen, wenn alle anderen Mittel ausgeschöpft sind. Während ein Strafverfahren bei übermütigen Jugendlichen und besorgten Eltern also mindestens fehl am Platz ist, können die weiten Strafrahmen den eigentlichen Opfern von sexualisierter Gewalt sogar deutlichen schaden.

So berichtet die "Süddeutsche Zeitung" von einem Mädchen, das der Polizei als Beweismittel gegen ihren Vergewaltiger ein altes Foto übergab. Die Polizei ermittelte anschließend - wegen Besitzes von Kinderpornografie gegen das Mädchen. Wegen Fällen wie diesen seien viele Betroffene sexualisierter Gewalt, die Beweismittel auf ihrem Handy haben und Anzeige erstatten wollen, verunsichert, erklärte auch die Bundeskoordinierung Spezialisierter Fachberatung gegen sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend (BKSF) gegenüber dem NDR.

Zudem binden die zahlreichen Ermittlungsverfahren ohne tatsächlichen pädokriminellen Hintergrund wichtige Ressourcen der Justiz und der Polizei. In jedem einzelnen Fall müssen Smartphones und Laptops ausgewertet, Anklagen erhoben und Urteile geschrieben werden. Für die tatsächlichen Fälle bleibe dadurch am Ende kaum noch Ermittlungspotential übrig, monierte Jan Reinecke vom Bund Deutscher Kriminalbeamter in der ARD. Nach Recherchen des Senders liegt die Zahl der Fälle ohne pädokriminellen Hintergrund in einigen Behörden bereits bei rund 50 Prozent.

Was sagt das Bundesjustizministerium?

All diese Probleme hatten Vertreterinnen und Vertreter der Justiz, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler prognostiziert. Zahlreiche Experten wurden vor der Gesetzesverschärfung angehört - "nicht eine oder einer von ihnen hielt sie für eine gute Idee", erinnert Heindorf. Tatsächlich war auch die ehemalige Bundesjustizministerin Christine Lambrecht damals zunächst gegen eine Anhebung der Mindeststrafe, bevor sie eine Kehrtwende hinlegte und die Gesetzesverschärfung auf den Weg brachte. "Unter dem Druck der Öffentlichkeit", vermutet die Anwältin.

Immerhin lagen die Missbrauchsfälle aus Münster, Bergisch-Gladbach und Lüdge damals nicht lang zurück. Die Forderungen nach härteren Strafen waren immens, vor allem die "Bild" hetzte in Dutzenden Schlagzeilen gegen eine zu lasche Bestrafung für "Kinderschänder". Beruhigt schienen Zeitung und Öffentlichkeit erst nach der Verkündung der Gesetzesverschärfung.

Mehr zum Thema

Dies nun wieder rückgängig zu machen, bietet also mindestens Potenzial für einen neuen Aufschrei. Möglich, dass sich Bundesjustizminister Marco Buschmann auch aus diesem Grund zögerlich verhält. Schon vor Monaten baten ihn die Justizminister der Länder, die Verschärfung wieder rückgängig zu machen. Viel geschehen ist seitdem nicht. Man nehme die Bedenken gegen die Neufassung von Paragraf 184b "sehr ernst" und prüfe den gesetzgeberischen Handlungsbedarf sowie mögliche Optionen, erklärt eine Sprecherin des Ministeriums auf Anfrage von ntv.de.

Dass es sich bei Strafen im Bereich von sexuellen Handlungen gegen Kinder um ein heikles Thema handelt, liegt auf der Hand. Kämen Täter wegen einer nun entstehenden Gesetzeslücke zu mild oder gar ungestraft davon, wäre dies kaum zu entschuldigen. Allerdings bestehe diese Gefahr nicht, wendet die Strafrechtlerin Heindorf ein. "Die wirklichen Täter, jene mit Hunderten oder Tausenden Bildern, sind auch bei der alten Fassung des Paragraf 184b nicht mit einer Geldstrafe oder einer geringen Freiheitsstrafe davongekommen." Denn der Strafrahmen bietet nach oben hin einen weiten Spielraum.

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen