Epidemiologe im Interview "Man sollte über vierte Impfung bei einigen nachdenken"
17.01.2022, 16:10 Uhr
In Deutschland leben viele Ältere, die nicht geimpft sind, sagt der Epidemiologe Ulrichs.
(Foto: picture alliance/dpa)
Stark steigende Infektionszahlen, aber etwas Entspannung auf den Intensivstationen - wo stehen wir gerade in der fünften Welle? Epidemiologe Ulrichs warnt davor, die Situation auf die leichte Schulter zu nehmen. Zudem regt er an, bei bestimmten Gruppen ernsthaft einen zweiten Booster zu erwägen.
ntv: Vergangene Woche gab es einen Rekord: 458.000 Neuinfektionen in einer einzigen Woche, so viel wie noch nie zuvor. Wie hoch wird diese Zahl denn noch steigen und wann erreichen wir den Peak?
Timo Ulrichs: Das kann man nicht genau vorhersagen, aber die Zahl wird sicherlich noch weiter steigen. Wir sehen, wie es in anderen Ländern gelaufen ist. In Großbritannien gehen die Zahlen langsam wieder runter - die haben den Peak überschritten. Wir liegen aber noch davor, und wir sind vor allen Dingen noch davor, was die Krankenhauseinweisungen und die Versorgung der Patienten betrifft, die sich aus der Omikron-Welle ergeben.
Die Zahl der Intensivpatienten sinkt gerade deutlich, aber die Deutsche Krankenhausgesellschaft sieht, dass mit Omikron wieder mehr Fälle auf den normalen Stationen eingewiesen werden. Glauben Sie, dass da noch die Trendwende kommt, weil sich auch Ältere infizieren werden, bei denen die Verläufe dann nicht so mild sein könnten?
Das ist auf jeden Fall zu erwarten. Wir werden hier eine Zunahme sehen und haben zwei Probleme: Erstens werden wir wegen der hohen Zahl von Neuinfizierten anteilig auch viele Menschen haben, die dann doch ins Krankenhaus müssen. Und wir dürfen nicht vergessen, dass wir noch sehr viele Millionen Ungeimpfte haben. Und die müssen möglicherweise auch versorgt werden. Zwar gilt, dass eine Infektion mit der Omikron-Variante etwas milder verläuft, aber eben nicht bei den Ungeimpften. Und dann kommt - zweitens - noch hinzu, dass die Omikron-Welle auch viele, die im medizinischen und im pflegerischen Bereich arbeiten, infizieren könnte. Die würden dann wegen Erkrankung, Quarantäne oder Isolation ausfallen. Diese beiden Dinge kommen sicherlich zusammen, und deswegen könnte es noch mal ziemlich eng werden im Gesundheitswesen.

"Wir sollten es also keinesfalls auf die leichte Schulter nehmen", rät Epidemiologe Ulrichs.
(Foto: ntv)
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach warnt auch vor hohen Todeszahlen und vor schweren Wochen, die uns bevorstehen. Wiegen wir uns gerade in falscher Sicherheit, eben weil Omikron bei den meisten mildere Verläufe verursacht?
Ja, und darauf wurde immer wieder hingewiesen. Wir haben ganz andere Voraussetzungen, als die Länder, die das alles schon einigermaßen gut und erfolgreich hinter sich gebracht haben. Wir haben ein viel höheres Durchschnittsalter der Bevölkerung. Wir haben viele ältere Menschen, die nicht geimpft sind oder bei denen die letzte Impfung schon eine Weile zurückliegt. Deswegen sollte man wirklich erwägen, eine vierte Impfung vorsichtshalber zu setzen. Das alles kommt hier zusammen. Wir sollten es also keinesfalls auf die leichte Schulter nehmen.
Die Politik debattiert momentan über eine Impfpflicht. Aber man hat den Eindruck, die Debatte wird immer weiter verwässert. Erst war die Rede von einer allgemeinen Impfpflicht. Dann wurde über bestimmte Altersgruppen diskutiert. Wie muss eine Impfpflicht denn wirklich aussehen, damit sie was bringt?
Am Ende müssen wir eine gute Impf-Abdeckung erreichen. Es müssen also etwa 90 Prozent der Bevölkerung geimpft sein. Wir dürfen uns nicht darauf verlassen, dass die Omikron-Welle mit ihrer Durchseuchung schon dafür sorgen wird, dass der Rest dann auch diese Immunität bekommt. Wir brauchen die Impfpflicht, um aus dieser Pandemie-Situation herauszukommen. Das wird auch immer wieder betont. Es gilt umso mehr angesichts der Omikron-Variante: Denn wir müssen uns auch darauf einstellen, dass nach Omikron, möglicherweise Richtung Herbst Winter 22/23, noch eine weitere Variante kommt. Und gegen die kann man sich nur gut wappnen, wenn es eine Grundimmunität in der Bevölkerung gibt. Und die erreichen wir, wenn wir wirklich flächendeckend impfen.
Das befürchtet auch der Bundesgesundheitsminister. Er sagt, eine Infektion mit Omikron ersetze keine Impfung. Haben Genesene also grundsätzlich einen geringeren Schutz als Geimpfte?
Bei Geimpften wissen wir, dass der Schutz gut und vollständig ist. Bei den nur Infizierten wissen wir es eben nicht genau. Das heißt, es kann von einer leichten Infektion bis zu einer direkten und intensiven Auseinandersetzung mit dem Virus gehen, und daran kann das Immunsystem tatsächlich auch lernen. Aber wie ausführlich und wie abdeckend dann eine solche Immunantwort ist, die dadurch aufgebaut wird, das wissen wir nicht.
Lassen Sie uns noch ganz kurz nach Großbritannien blicken. Die Briten wollen laut Medienberichten die Pflicht zur Isolierung nach einer Infektion aufheben. Zu Hause bleiben ist also nicht mehr Pflicht. Es wird nur noch empfohlen, aber man hat keine Strafe zu befürchten, wenn man es nicht tut. Kann das fatale Auswirkungen auf das Infektionsgeschehen in Großbritannien haben?
Großbritannien ist offensichtlich schon mit dem Peak durch und die Zahlen nehmen ab. Aber trotzdem: Macht man sich zu früh locker, kann das eine Verlängerung bedeuten. Das heißt, dass die Neuinfiziertenzahlen nicht stark, sondern dass sie abhängig von den Lockerungen langsam sinken, bis sie sich wieder auf hohem Niveau stabilisieren. Man hat noch nicht die Situation, auch nicht in Großbritannien, dass die Infektionszahlen stark runtergehen, weil schon alle das Virus hatten.
Mit Timo Ulrichs sprach Nele Balgo
Quelle: ntv.de