Schutzlos für ihre Kinder Mütter, die gegen die Mafia rebellieren


Frauen, die sich aus den Fängen der Mafia befreien, müssen auch im Verborgenen um ihre Sicherheit fürchten.
(Foto: REUTERS)
"Frei zu wählen" heißt ein Projekt in Italien. Es hilft Frauen und Jugendlichen, sich aus der kriminellen Umklammerung ihrer mit der Mafia verbundenen Familien loszureißen. Denn ab diesem Zeitpunkt leben sie in ständiger Gefahr, Racheakten zum Opfer zu fallen.
Es sind besondere Menschen, die am Montag von Papst Franziskus empfangen wurden. Menschen, die von ihrer Vergangenheit gezeichnet sind und mutige Entscheidungen getroffen haben, deren Folgen gravierend sind. Die Rede ist von Frauen, Töchtern und Söhnen aus Mafia-Familien, die diesen den Rücken gekehrt haben. Papst Franziskus würdigte ihren Schritt und ihre Courage mit diesen Worten: "Sie, meine Damen, sind in einem von der Mafia verseuchten Ambiente geboren und aufgewachsen und haben beschlossen, dieses zu verlassen. Ich segne diesen Entschluss und ermutige Sie, nicht aufzugeben."
Namen der Anwesenden dürfen keine genannt werden. Auch Interviews sind nicht gestattet, ein noch so kleines Detail könnte unbeabsichtigt den Ort verraten, wo sich einige dieser Frauen mit ihren Kindern aufhalten und ihnen das Leben kosten. Denn aus der Mafia steigt man nicht einfach so aus. Selbst, wenn man "nur" Tochter oder Ehefrau eines Mafioso ist und sich selbst sich nichts zuschulden kommen lassen hat : In den Fängen der Mafia, Camorra, 'Ndrangheta bleibt man lebenslang, außer man nimmt all seinen Mut zusammen und reißt sich los.
Schon minderjährig im Gefängnis
So wie Daniela zum Beispiel, die in einem Video auf der Website von Libera ihre Geschichte erzählt. Der Name ist erfunden, die Stimme verzerrt, zu sehen ist sie auch nicht. Der Verband Libera, der 1995 vom Priester Don Luigi Ciotti ins Leben gerufen wurde, ist Inbegriff des Kampfs gegen die Mafia. Zu den vielen Projekten des Verbands, um gar nicht erst in die Fänge der Mafia zu geraten oder diesen zu entkommen, gehört auch "Liberi di scegliere". Übersetzt heißt das "Frei zu wählen". Das Projekt unterstützt Jugendliche und Frauen, die der Mafia den Rücken kehren wollen.
"Den Anstoß gab der Richter Roberto Di Bella, als er noch Präsident des Jugendgerichtshofs in Reggio Calabria war", erzählt Don Giorgio De Checchi, Koordinator des Projekts, ntv.de. "Er hatte die Väter im Gefängnis gesehen, jetzt waren es ihre Söhne, die noch nicht einmal volljährig schon hinter Gitter saßen. Er wollte diesen Jugendlichen eine Alternative anbieten. Anstatt nach der Freilassung wieder im selben Ambiente zu landen, bot er ihnen an, weit weg von zu Hause, in einer anderen Region unterzukommen und dort ihr Leben doch noch auf die Reihe zu bekommen."
Um die Idee umzusetzen, kam dann Libera ins Spiel. Das wiederum führte mit der Zeit dazu, dass auch Frauen, vor allem Mütter, sich an den Verband wandten und um Unterstützung baten, weil sie, hauptsächlich für ihre Kinder, ein anderes Leben wollten. Finanziert wird das Programm "Liberi di scegliere" von der italienischen Bischofskonferenz.
Daniela erzählt im Video: "Ich bin eine Frau, vor allem aber bin ich die Mutter meiner drei Kinder." Sie habe sich entschlossen, einen neuen Weg einzuschlagen, als ihr Mann von der Mafia ermordet wurde. Da er selbst Teil des Systems war, "kann er nicht als Opfer beschrieben werden". Erst seine Ermordung habe ihr die Augen geöffnet, fährt sie fort. "Bis dahin haben wir unser Umfeld und die Brutalität einfach nicht registriert. Uns waren die Augen verbunden. Wir sind ja dazu erzogen worden, nichts zu sehen, nichts zu sagen und nichts zu hören. (...) Ihr [gemeint ist die Mafia, Anmerkung d.Red.] Ziel ist es, die komplette Kontrolle über uns zu haben, die psychische wie auch die physische." Zwei Jahre lang habe sie an den Türen von Kirchengemeinden geklopft und gebeten, ihr zu helfen, vergeblich. Erst das Treffen mit Don Ciotti und Libera ermöglichte ihr, mit den Kindern wegzugehen.
Daniela und die anderen Frauen, denen es gelungen ist, sich und ihre Kinder zu befreien, befinden sich jetzt in Sicherheit, was aber nicht zwangsläufig heißt, dass sie auch ein neues, selbstbestimmtes Leben führen.
Für den Staat nicht von Nutzen
Don Ciotti sprach das Thema im Laufe des Besuchs bei Papst Franziskus an. Er erzählte, dass einige der Anwesenden schon einmal ihren geheimen Aufenthaltsort wechseln mussten, weil die Ursprungsfamilie sie ausfindig gemacht hatte und sie bedrohte. Der Priester appellierte an die Politik, endlich ein Gesetz zu verabschieden, das auch diesen Frauen und ihren Kindern eine neue Identität gewährt, und ihnen so wirklich ein neues Leben ermöglicht. So ist es bereits bei Mafia-Zeugen und bei den "Pentiti" - Mafiosi, die sich entschlossen haben, mit der Justiz zu kooperieren.
"Heute leben wir, beziehungsweise überleben wir", fährt Daniela im Video fort. "Wir verstecken uns und haben keine Identität mehr. Meine Töchter fragen mich manchmal, warum sie so leben müssen, wir selbst hätten doch nichts Böses getan?" Für Kinder und besonders für Teenager ist es schwierig, sich mit diesem neuen Leben abzufinden, zu verstehen, wie sehr ihre Mütter gekämpft haben und noch immer kämpfen, damit sie nicht in die Fußstapfen der Väter und Großväter treten. "Im Moment habe ich, auch dank Libera, gewonnen", sagt Daniela abschließend. "Und ich hoffe, das auch in Zukunft stolz behaupten zu können." Jetzt heiße es aber auch ein normales Leben führen zu können, denn: "Wir wollen leben!"
So zynisch es auch klingen mag, erklärt Don Giorgio, da diese Aussteiger weder Zeugen noch Pentiti sind, stellen sie für den Staat keinen Nutzen dar, und fallen deshalb aus dem Raster der Schutzprogramme. Ein gesetzliches Vakuum, das auch den Sicherheitskräften manchmal Schwierigkeiten bereitet. Bei besonders gefährdeten Frauen und ihren Kindern ist es der Verband Libera, der sich um eine sichere Unterkunft kümmert - dazu gehören auch Klöster - und dafür sorgt, dass die Kinder in die Schule gehen. "Wir wenden uns dann, über das Bildungsministerium an Schulen, beziehungsweise Schulleitungen, die eingeweiht sind und die Kinder unter anderem Namen registrieren." Doch, wie Daniela im Video sagt, das ist überleben, leben sieht anders aus.
Quelle: ntv.de