"Fühlt sich echt an"Polizei trainiert virtuell für den Ernstfall

Mit Einsätzen in einer vom Computer simulierten Welt sollen Polizisten in Niedersachsen besser geschult werden. Die Erfahrung ist intensiv und lehrreich, trotzdem bleiben echte Erfahrungen unersetzlich.
Ein Mann hat sich in einer Hoteltoilette verschanzt. Beim Eintreffen der Polizei kommt er heraus und stellt sich den Beamten mit einem Messer entgegen. Für Polizisten sind derartige Einsätze keine Seltenheit mehr. Im echten Einsatz kann dann eine falsche Entscheidung zu Verletzten oder Schlimmerem führen. Mit Computersoftware und Virtual Reality (VR) sollen Einsatzkräfte daher besser vorbereitet werden. Was hat es damit auf sich?
Die Sprecherin der Polizeiakademie Niedersachsen Patricia Höft erklärt, Polizisten und Polizistinnen müssten vorbereitet sein, um im Ernstfall schnell abwägen und Entscheidungen treffen zu können. Etwa: Wann setze ich die Pistole ein? Polizeitrainer Johannes Wetzorke sagt: Letztlich gehe es um Erfahrungen in Extremsituationen.
Gerade stand er dem Angreifer - eigentlich nur Pixel in der künstlichen Welt - aus der Hoteltoilette gegenüber. Plötzlich knallte es zweimal. Als der Angreifer auf ihn zustürmte, schoss Wetzorke mit einer Pistolen-Attrappe, die mit Gaskartuschen ausgerüstet ist. Messerangriffe mehren sich. Zwischen 2020 und 2024 ist die jährliche Zahl in Niedersachsen laut Kriminalstatistik um 29 Prozent auf 3055 gestiegen, stagnierten aber zuletzt. Generell nehme die Gewaltbereitschaft zu, sagt Wetzorke.
Polizist: "Geht unter die Haut"
Doch wie genau funktioniert das ReactXR genannte System? Die möglichst realistischen Einsatzszenarien werden über eine VR-Brille direkt vor die Augen projiziert. In einem vorbereiteten Raum kann sich die übende Person frei bewegen, die Brille bietet eine Rundumsicht des virtuellen Geschehens. Am Gürtel sind Attrappen für Pistolen, Pfefferspray oder Handschellen. Ein Griff und sie tauchen in der virtuellen Welt auf.
Die möglichen Einsätze sind vielfältig und reichen vom Weihnachtsmarkt-Anschlag bis zum Banküberfall. So könne trainiert werden, was in der realen Welt oft schwer nachzustellen sei, sagt Polizeitrainer Jan Fischer. Für die spätere Analyse werden sämtliche Geschehen aufgezeichnet. So würden etwa tote Winkel oder Projektil-Schussbahnen sichtbar.
Nicht länger als eine Stunde sollte virtuell trainiert werden - sonst sei die Anstrengung zu hoch. "Das ist sehr immersiv und geht schnell unter die Haut", berichtet Wetzorke: "Es ist beeindruckend, wie echt es sich anfühlt, wie schnell das Adrenalin steigt." Bisher gibt es das System des Münchener Herstellers Hologate in Niedersachsen zweimal in Hann. Münden. Ab 2026 sollen Trainerinnen und Trainer der verschiedenen Polizeistandorte sowie Spezialkräfte damit fortgebildet werden.
Peter Fromberger von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Göttingen sagt: Untersuchungen zeigten, dass Übungen - je nach trainierter Aufgabe - im virtuellen oder im echten Raum vergleichbar seien. Fischer ergänzt: Tatsächliche Einsatzerfahrungen oder den Schießstand könne VR dennoch nicht ersetzen. Die Technologie habe die Möglichkeit, die Aus- und Fortbildung attraktiver zu machen, sagte Birgit Harthum vom europäischen Polizeinetzwerk SHOTOPROS, das bereits zu dem Thema geforscht hat. Wichtig sei, dass VR-Technik als Ergänzung gesehen und mit Trainings in der realen Welt kombiniert werde.
Wie gelingt der Unterschied zwischen realer und virtueller Welt?
Studenten sollen mit ReactXR erst einmal nicht üben. "Das kann schnell traumatisieren", sagt Wetzorke. In der Ausbildung kommt stattdessen das Programm ViSiT zum Einsatz. Seit 2022 werden damit klassische Theorie- und Praxisteile ergänzt, die dafür kürzer ausfallen. Dabei werden unter anderem verschiedene Einsätze in einer Art Videospiel besprochen. Die Einsatzszenarien sind weniger dramatisch: ein Verkehrsunfall oder eine kleinere Kundgebung.
Gesteuert wird mit dem Gamepad am Computer. Über Leinwandübertragungen schauen Studenten ihren Kollegen über die Schulter und überlegen, was zu tun ist. "Folgen von Entscheidungen werden direkt deutlich. Wenn ich den Abschleppwagen falsch anfordere, steht er mir plötzlich im Weg", erklärt Polizeistudent Tamino Hissung.
Zudem wird VR-Technik genutzt, um 360-Grad-Videos anzuschauen, mit denen die Auffassungsgabe trainiert werden soll. Beides hilft laut der Gewerkschaft der Polizei in Niedersachsen dabei, den Praxisschock bei ersten Einsätzen abzuschwächen. Den hätten Studenten trotz umfassender Theorie-Vorbereitung bisher oft auch bei Standardsituationen wie Einbrüchen oder Verkehrsunfällen.
Doch besteht durch die neue Technik die Gefahr, irgendwann nicht mehr zwischen realer und virtueller Welt unterscheiden zu können? Könnten Polizistinnen und Polizisten reale Gefahren unterschätzen, weil Fehler in der virtuellen Welt letztlich keine Konsequenzen haben? Verschiedene Techniken sollen das verhindern: das Knallgeräusch etwa beim Schuss mit der Pistole im virtuellen Einsatz. Der Einsatzgürtel gibt kleine Stromimpulse ab, wenn ein Polizist von einer Kugel getroffen wird. Die bildliche Darstellung sei nicht fotorealistisch, das sei bewusst so gewählt, sagt Polizeitrainer Fischer. Sein Kollege Wetzorke sagt aber auch: "Am Ende ist es die Aufgabe von uns Ausbilderinnen und Ausbildern, immer wieder den Ernst und die Gefahren zu verdeutlichen, die unsere Arbeit nun mal mit sich bringt."