Polizeischutz und Einsamkeit Roberto Saviano lebt wie in einem Käfig


Roberto Saviano zahlt für seine Enthüllungen einen hohen Preis.
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Sein Enthüllungsbuch über die neapolitanische Mafia kostet den Schriftsteller Saviano die Freiheit. Heute quält ihn die Frage, ob er nicht alles falsch gemacht hat. Einer italienischen Zeitung gibt er tiefe Einblicke in ein Leben unter ständiger Gefahr.
"Ja, ich habe auch ein paar Mal darüber nachgedacht, mir das Leben zu nehmen", räumt Schriftsteller Roberto Saviano in einem Interview mit der italienischen Tageszeitung "Corriere della Sera" ein. 20 Jahre stehe er mittlerweile unter Polizeischutz, und nur wer das selbst erlebt hat, sei in der Lage zu verstehen, was diese Bedingungen einem abverlangen.
Saviano ist gebürtiger Neapolitaner und inzwischen 44 Jahre alt. 2006 erlangte er mit seinem Reportage- und Dokumentations-Buch "Gomorrha" internationale Bekanntheit. Darin beschrieb er die Struktur und die Machenschaften der Camorra, der neapolitanischen Mafia - und geriet selbst in deren Schusslinie.
Vor allem Camorra-Boss Francesco Bidognetti - auch Cicciotto di Mezzanotte genannt - und dessen Rechtsanwalt ließen ihn wissen, dass er binnen fünf Jahren ein toter Mann sein werde. Damals war Saviano 26 Jahre alt, er bekam Personenschutz. Das Gerichtsverfahren gegen den Mafiaboss läuft mittlerweile seit 16 Jahren und ist noch immer nicht abgeschlossen.
Saviano erzählt seinem Interviewpartner Aldo Cazzullo von den Schuldgefühlen, die ihn seiner Familie gegenüber plagen. Er erzählt vom Begräbnis einer Tante, die unlängst verstorben ist und die ihm sehr viel bedeutete: "Genaugenommen war das gar keine Bestattung. Auf dem Friedhof war niemand. Meine Eltern lebten einst in Caserta (nicht weit von Neapel, Anmerkung d. Red.) Sie mussten schon 2006 nach Norditalien ziehen. Auch meinetwegen. Haben sich dort aber nie eingelebt."
Wirkliche Gefahr oder Inszenierung?
Abgesehen von den Camorristi, die ihm den Tod wünschen, gibt es auch ganz normale Neapolitaner, die Saviano das Bild, das er mit "Gomorrha" von Neapel gezeichnet hat, nicht verzeihen. Dass er die Stadt beschrieben hat, wie sie war, und dass sein Buch auch dazu beigetragen hat, die Aufmerksamkeit auf diese kriminellen Machenschaften zu lenken und das wiederum positive Änderungen hervorbrachte, wird selten hervorgehoben. Vor allem, dass man sich heute in manchen neapolitanischen Vierteln problemlos bewegen kann, ist der Zivilcourage Savianos zu verdanken. Die Menschen wollen keine Camorristi mehr.
Der Autor gehört zu jenen Intellektuellen, die von der Politik vereinnahmt wurden. Die Linken tragen ihn auf Händen, den Rechten stehen die Haare zu Berge, wenn sie nur seinen Namen hören. Der nationalpopulistische Vizepremier Matteo Salvini, Infrastrukturminister und Lega-Chef, würde ihm liebend gerne den Personenschutz entziehen. Saviano sieht sich auch mit der Frage konfrontiert, warum er eigentlich bereits jahrzehntelang Personenschutz habe, ohne dass ihm bis jetzt etwas zugestoßen sei.
Beispiel Salman Rushdie
Im Interview weist Saviano auf den indisch-britischen Schriftsteller Salman Rushdie hin, mit dem er seit Langem befreundet ist. Das Buch "Die satanischen Verse" aus dem Jahr 1988 brachte Rushdie eine Fatwa ein. Er wurde für Muslime weltweit zum Freiwild - er ist es bis heute. Auf ihn ist ein Kopfgeld in Millionenhöhe ausgestellt. Rushdie bekam Personenschutz, lebte lange Jahre auch mehr oder weniger versteckt.
Irgendwann beschloss er, der Gefahr trotzend, wieder ganz frei und normal zu leben. Das ging über eine gewisse Zeit auch gut. Bis zum Sommer 2022, als Rushdie bei einem Messerattentat lebensgefährlich verletzt wurde und ein Auge verlor. "Das Skurrile dabei ist, dass sich Rushdie jetzt erleichtert fühlt", hebt Saviano hervor. "Niemand kann mehr behaupten, die Fatwa sei nur eine Inszenierung."
Unter Personenschutz zu leben, bedeutet für Saviano zweierlei: "Zum einen der Kritik ausgesetzt zu sein, man würde die Gefahr übertreiben, sich damit in Szene setzen. Zum anderen, sich ständig zu fragen: 'Wie befreie ich mich aus dieser Gefangenschaft?'"
Panikattacken und Lebensmüdigkeit
Auf die Frage, ob er unter Panikattacken leide, antwortet Saviano: "Ständig. Ohne Tropfen könnte ich es nicht aushalten. Fünf Uhr morgens ist der schlimmste Moment des Tages. Du atmest nicht. Du fragst dich: Und jetzt? Wohin gehe ich? Ich werde von zwei Lasten erdrückt. Eine, weil ich mein Leben riskiere, die andere, weil ich noch immer am Leben bin."
Und dann ist da noch die Einsamkeit. Saviano erzählt von den letzten Osterfeiertagen. Am Osterabend haben ihm Verwandte und Freunde bis 19 Uhr Gesellschaft geleistet. Dann sind sie aber gegangen und waren bis 4 Uhr in der Früh in Neapel unterwegs. Er freut sich für sie, meint Saviano. Er selbst musste aber zu Hause bleiben.
Gleich ob Freundschafts- oder Liebesbeziehungen, beide werden von seiner beschränkten Bewegungsfreiheit beeinträchtigt. "Besonders, was die Liebe betrifft. Wenn ich eine Person gerne habe und diese mich, ist die Beziehung von Anfang an sabotiert." Die Liebe fordere Freiheit, und diese Freiheit habe er nicht.
Auf die Frage, ob er Neid ihm gegenüber spüre, antwortet Saviano mit einer Anekdote: "Ich habe einmal mit Philip Roth ein Selfie gemacht und er sagte mir: 'Ich wäre nie im Leben auf ein Scheißleben wie deins eifersüchtig.'"
Das ist für Saviano nachvollziehbar. Gerne hätte er ein anderes Leben. Gerne würde er sich nicht ständig die Frage stellen, ob er sein Leben vergeudet hat. Die Antwort darauf hat er noch nicht. Und quält sich weiter.
Quelle: ntv.de