Der Fall Tuğçe Albayrak Sie wollte helfen - und musste sterben
24.04.2015, 08:51 Uhr
Tuğçe Albayrak starb im November 2014 an ihren schweren Kopfverletzungen.
(Foto: REUTERS)
Tuğçe Albayrak musste sterben, weil sie Zivilcourage bewies. Nach ihrem gewaltsamen Tod stieg sie zu einer Art Heldin auf. Die junge Frau verkörpert das Bild der erwünschten Einwanderin. Ganz anders Sanel M. - dem der Prozess gemacht wird.
Das Leben von Tuğçe Albayrak ist kurz. Es endet an ihrem 23. Geburtstag. Als die lebenserhaltenen Apparate stillstehen, hört das Herz in ihrem hirntoten Körper auf zu schlagen. Ganz Deutschland trauerte um die junge Studentin, die für ihre Zivilcourage mit dem Leben bezahlen musste. Niedergefaustet von Sanel M., einem Schulversager und der Polizei bekannten Schläger.
Rückblende: In der Nacht des 15. November 2014 kommt es auf dem Parkplatz einer Offenbacher McDonalds-Filiale zu einem Streit unter Jugendlichen. Eine Gruppe Mädchen und eine Gruppe Jungen beschimpfen sich gegenseitig. Unter den jungen Frauen ist die 22-jährige Studentin Tuğçe Albayrak, unter den jungen Männern der 18-jährige Sanel M. Schließlich wird aus den Beleidigungen Gewalt, Sanel schlägt Tuğçe. Die 22-Jährige stürzt zu Boden und prallt mit dem Hinterkopf auf dem Asphalt auf. Es ist ihr Tod. Durch den Sturz erleidet Tuğçe eine Gehirnblutung, fällt ins Koma, wird für hirntot erklärt. Am 28. November 2014 werden die lebenserhaltenden Maschinen abgestellt.
Auch die Vorgeschichte des tödlichen Streits auf dem Parkplatz ist bekannt. Tuğçe hatte sich für zwei jüngere, möglicherweise betrunkene Mädchen eingesetzt, die zuvor auf der Toilette von der Jungengruppe belästigt worden waren.
Gut gegen Böse?
Die Nachricht von Tuğçes selbstlosem Einsatz verbreitet sich blitzschnell über die sozialen Netzwerke, tausende Menschen versammeln sich vor der Offenbacher Klinik, legen Blumen nieder, halten Mahnwachen. Tuğçe Albayrak steigt nach ihrem gewaltsamen Tod posthum zu einer Art Heldin auf.
Wohl auch deshalb, weil die junge Frau mit türkischem Migrationshintergrund das Bild der erwünschten Einwanderin verkörpert. Tuğçe war bildungseifrig, selbstbewusst und ließ sich auch von betrunkenen Männergruppen nicht einschüchtern. Sie stammte aus einer Familie, die sie förderte, war assimiliert und zugleich ihrer Herkunft treu ergeben. Sie war tapfer, engagiert und hübsch dazu. "Wäre Tugce ein frommes, pummeliges Mädchen mit Kopftuch und in langen Gewändern gewesen statt eine Frau, die sich schminkte ... , wer weiß, wie man ihrer gedächte", urteilte "Die Welt" in einem Beitrag.
Auf der anderen Seite: der in Untersuchungshaft sitzende Täter. Er scheint exakt das zu verkörpern, woran hierzulande selbst die wohlmeinendste Integrationspolitik scheitert: Sanel M., 18 Jahre alt, Serbe, polizei- und justizbekannt, arbeitslos. Einer, der sich das Recht herausnimmt, zu beleidigen und zu schlagen, wann und wen er will. Ein Macho mit krudem Weltbild, in dem mutige junge Frauen fremde Wesen sind. Der Fall Tuğçe - ein Fall von Gut gegen Böse?
"Halt die Klappe, kleiner Hurensohn!"
Strafen im Erwachsenenstrafrecht
- Bei schwerer Körperverletzung mit Todesfolge muss ein Erwachsener mit drei bis 15 Jahren Haft rechnen.
Strafen im Jugendstrafrecht
- Bei schwerer Körperverletzung mit Todesfolge gilt eine Höchststrafe von zehn Jahren. Die Mindeststrafe von sechs Monaten könnte zur Bewährung ausgesetzt werden
- Neben dem Strafrecht muss das Gericht natürlich auch weitere Faktoren, wie die Vorgeschichte auf der Toilette - in ihr Urteil einbeziehen.
Zehn Verhandlungstage sind für den Prozess gegen Sanel M. geplant. Ab dem 24. April beginnt der "Fall Tuğçe" vor einer Kammer des Darmstädter Landgerichts. "Körperverletzung mit Todesfolge" lautet die Anklage, nicht "Totschlag" oder "Mord". Ein Indiz dafür, dass Ermittler und Juristen den Fall sehr viel differenzierter einstufen, als es die öffentliche Erregung anfangs vermuten ließ. Weil es ein Überwachungsvideo von der Tat gibt, war es laut Staatsanwalt Axel Kreutz schon von Beginn an klar, dass Sanel M. ziemlich offenkundig nicht die Absicht hatte, zu töten.
Die Ermittlungen ergeben ein "überraschendes Bild" des Tatablaufs, berichtete der "Spiegel" Anfang Februar diesen Jahres, nachdem man Einsicht in die Akten bekam. So sollen die beiden jungen Mädchen, denen Tuğçe beistand, zwar von der Jungengruppe bedrängt worden sein, jedoch nicht so dramatisch, dass die Mädchen in große Angst geraten wären. Bei dem folgenden Streit zwischen den Jugendlichen hätten beide Seiten nicht mit Beleidigungen gegeizt haben, schreiben die Autoren. Besonders Tugce habe sich zu einer derben Beschimpfung hinreißen lassen. Nachdem Sanel M. sich bereits vom Schauplatz entfernt hatte, habe sie ihm hinterhergebrüllt: "Halt die Klappe, kleiner Hurensohn!" Daraufhin kehrte Sanel wutentbrannt zurück.
Was dann passierte, konnte man auch im Überwachungsvideo sehen: Nach dem Gerangel kämpft Sanel mit einem seiner Freunde, der ihn bereits vorher zu bremsen versuchte. Tuğçe ist zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in der Gruppe, sie verlässt die Deckung hinter einem Auto, drängt sich an einer danebenstehenden Person vorbei und fährt aktiv zwischen die beiden streitenden jungen Männer. Da erwischt sie Sanels Faust.
Unglückliche Verkettung von Umständen
Doch nicht der Schlag, sondern der darauffolgende Sturz soll Tuğçe mit großer Wahrscheinlichkeit das Leben gekostet haben. Laut "Spiegel" wird Sanel M. durch eine Analyse des Bundeskriminalamts entlastet. Demnach traf der Faustschlag Tuğçe auf der rechten Seite, im Fallen drehte sie sich und schlug schließlich mit der linken Gesichtshälfte auf. Vermutlich bohrte sich beim Sturz der dreieckige Ohrring in eine empfindliche Stelle ihrer Schädeldecke.
Laut "Spiegel" ergab das rechtsmedizinische Gutachten von Tuğçe, dass ihr Schädel an der Bruch-Stelle eine auffallend dünne Schädeldicke aufwies. Nur ein bis zwei Millimeter war der Schädel der Studentin demnach an dieser Stelle dick. War der Tod der 22-jährigen Studentin also ein tragischer Unfall? Ein Streit zwischen betrunkenen Jugendlichen, in dem beide Seiten die Eskalation nach Kräften befördert haben.
Die Spiegel-Autoren Matthias Bartsch und Jürgen Dahlkamp ziehen aus der unglücklichen Verkettung von Umständen folgenden Schluss: Hätte Tuğçe nicht den Ohrring getragen, "der Streit auf dem Offenbacher Parkplatz wäre vermutlich einer von vielen geblieben, die sich jedes Wochenende vor unzähligen Klubs, Discos, Imbisslokalen und Kinos dieser Republik ereignen. Mit Pöbeleien zwischen Jugendlichen, Motzen, Protzen und manchmal auch Schlägereien."
Kommt Sanel mit Bewährung davon?
Sanel sitzt seit der Tatnacht in der JVA Wiesbaden. Er gilt als Intensivtäter, soll schon in rund 15 Fällen mit der Polizei zu tun gehabt haben - unter anderem wegen schweren Diebstahls, Sachbeschädigung, Ladendiebstahls und Körperverletzung. Laut Staatsanwaltschaft habe Sanel unter anderem kurz in einer Arrestanstalt für Jugendliche gesessen. Für das Strafmaß wird vor allem entscheidend sein, ob das Gericht ihn nach Erwachsenen- oder Jugendstrafrecht beurteilt.
Eine "Körperverletzung mit Todesfolge" würde Sanel mindestens drei, höchstens 15 Jahre Haft einbringen, wäre er nach Erwachsenenrecht angeklagt worden. Doch bei Jugendstrafrecht gibt es keine Mindeststrafe. Theoretisch kann er mit Bewährung davon kommen. Das hat Sanels Anwalt offensichtlich im Auge. Er betont, dass seinem Mandaten das Geschehen leid tue. Den Tod der Studentin habe Sanel niemals gewollt.
Quelle: ntv.de