Panorama

Der Weg zur Wegwerfgesellschaft "Schon die Neandertaler haben ihre Höhlen vollgemüllt"

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Die Menschheit hat inzwischen gewaltige Müllberge angehäuft.

Die Menschheit hat inzwischen gewaltige Müllberge angehäuft.

(Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com)

Schon vor Urzeiten sind die Wege der Menschen von Abfall gesäumt. Doch erst mit Beginn des Massenkonsums wird Müll zu einem globalen Umweltproblem. Jedes Jahr fallen allein in Deutschland pro Kopf zwischen 400 und 500 Kilogramm Haushaltsmüll an. Der Historiker Roman Köster beschreibt in seinem Buch "Müll", wie der Umgang mit Abfall die Gesellschaft prägt.

ntv.de: Herr Köster, ich habe kurz vor unserem Gespräch zwei Eierschalen und eine Milchverpackung weggeworfen. Müll lässt sich im Alltag reduzieren, aber kaum vermeiden. Ab welchem Punkt wird er zum Problem?

Roman Köster: Müll erzeugt eine ganze Reihe von Problemen: Er nimmt Platz weg, vergiftet potenziell die Umwelt, er stinkt und ist attraktiv für Ungeziefer oder Kleintiere. Wenn die Gesellschaften es nicht schaffen, damit vernünftig umzugehen, ist Müll immer problematisch. Müll haben Menschen schon immer produziert, das ist ein Gattungsmerkmal. Schon die Neandertaler haben ihre Höhlen vollgemüllt, aber dann sind sie eben eine Höhle weitergezogen und damit war das Problem gelöst.

In ihrem Buch gehen Sie zurück bis in die Vormoderne. Wie sind die Menschen damals mit Müll umgegangen?

Müll wurde für die Menschen zum Problem, als sie sesshaft wurden - schlichtweg, weil er Platz wegnahm. Er musste irgendwie aus der Behausung geschafft werden, die Menschen brachten ihn entweder als Dünger auf die Felder auf oder sie reparierten kaputte Dinge, weil sie keine anderen Möglichkeiten hatten.

Die Wiederverwertung war eher eine notwendige Antwort auf Knappheit?

Genau, eigentlich sind alle vormodernen Gesellschaften bis ungefähr 1800 Recycling- und Zero-Waste-Gesellschaften gewesen, weil sie eben sehr viel wiederverwertet haben, sehr viel repariert haben.

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Das war nicht das Resultat einer besseren Ethik oder einer anderen Einstellung zur Natur, sondern eben eine Notwendigkeit, weil es Knappheitsgesellschaften waren. Ökonomische Knappheitsmotive sind für Recycling von zentraler Bedeutung.

Im Zuge der Industrialisierung und auch steigender Geburtenraten wuchsen die Städte im 19. Jahrhundert rasant an. Welche neuen Herausforderungen waren damit verbunden?

Recycelt wurde im Zeitalter der Industrialisierung teilweise sogar noch intensiver als in der Vormoderne, weil eben sehr viele Materialien als Ausgangspunkt für industrielle Produktion genommen wurden. Mit dem Städtewachstum produzierten immer mehr Menschen immer mehr Abfälle, weshalb man gezwungen war, sich damit auseinanderzusetzen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden Müllabfuhren eingeführt, auch aus hygienischen Gründen.

Roman Köster ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften.

Roman Köster ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften.

(Foto: Laura Trumpp/Privat)

Das enge Stadtleben brachte Krankheiten mit sich.

Genau, es war typisch, dass sich mit neuen Formen des Zusammenlebens in immer größeren Städten im 19. Jahrhundert auch neue Krankheiten ausbreiteten, besonders die Cholera. Das hat das Wissen darüber erweitert, was Müll potenziell anrichten kann. Da ging es eben nicht mehr nur darum, ein Ärgernis zu beseitigen, sondern den öffentlichen Raum vor der Ausbreitung von Krankheiten zu schützen. Entsprechend wurde die Art und Weise des Umgangs mit Müll immer ausgefeilter.

Haben das die Menschen aus heutiger Sicht damals gut gelöst?

Es gibt Bilder von New York aus den 1850er-Jahren, da sind die Straßen Zentimeter hoch mit Fäkalien bedeckt. Diesen Zustand zu beenden, ist sicherlich als historischer Fortschritt zu bewerten. Durch die Einführung von Mülltonnen und Müllabfuhrfahrzeugen wurden die Städte tatsächlich sauberer. Jedoch verläuft Fortschritt beim Müll selten ohne unerwünschte Nebeneffekte. Wenn man zum Beispiel Mülltonnen einführt, nimmt man vielen Leuten, armen Leuten insbesondere, damit auch die Möglichkeit, mit Müll ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

Die Masse an Müll nahm nach dem Zweiten Weltkrieg enorm zu. Sie beschreiben seine "materielle Komplexität". Welche Auswirkungen hatte das auf die Entsorgung?

In den 1960er-Jahren verdoppelten sich die Müllmengen allein in der Bundesrepublik im Vergleich zum Vorkriegsniveau. Das ging einher mit der Etablierung von Supermärkten, Verpackungen und neuen Verfahren der Massenproduktion: Kleidung, Fleisch, Getränke, Möbel, Elektrogeräte. Die Produkte wurden komplexer, es wurden immer mehr Elemente des chemischen Periodensystems verwendet, die Materialien wurden neu miteinander kombiniert. Dadurch ließ sich Müll nicht mehr so einfach in Produktions- und Lebenszyklen zurückführen. Die Wiederverwertung wurde sehr aufwendig, weshalb der Anreiz stieg, Müll eben einfach als Müll zu behandeln, ihn also auf die Deponie zu werfen oder in der Müllverbrennungsanlage zu verfeuern.

Deutschland erlebte damals das sogenannte Wirtschaftswunder, die Leute konnten sich etwas leisten und den Mangel des Kriegs überwinden. War das der Anfang vom Überfluss?

Die Menschen wollten die Knappheitserfahrung des Zweiten Weltkriegs überwinden. Anfangs taten sie sich damit noch schwer, aber bald gewöhnten sie sich an den Konsum und irgendwann war er selbstverständlich. Die Massenproduktion ließ die Preise für Konsumgüter sehr stark sinken. Die Menschen konnten sich bald immer mehr kaufen, ein Auto, einen Fernseher. Ein Haushalt in der Bundesrepublik gab in den 1950er-Jahren noch die Hälfte seines Budgets für Lebensmittel aus, heute sind das sieben bis acht Prozent. Durch mehr Konsum entsteht automatisch mehr Abfall.

Heute diskutieren wir über freiwilligen Verzicht, das Bewusstsein für Nachhaltigkeit wächst, viele kaufen Secondhand. Leistet das einen relevanten Beitrag zur Müllvermeidung?

Bei der Einschätzung von individuellem Verhalten muss man vorsichtig sein. Es ist sicher ein gewichtiges gesellschaftliches Zeichen, aber Studien beziffern die Potenziale für die Müllvermeidung beim Individuum auf etwa 20 Prozent. Bei der Verantwortung der Produzenten von Kunststoffen lässt sich dagegen noch sehr viel machen, was betriebliches Recycling und Kreislaufwirtschaft angeht.

Neuerdings fluten Billigstprodukte aus China den europäischen Markt und die USA. Deutschland erreichen aktuell täglich rund 200.000 Pakete allein von Temu. Wie erreicht man das Bewusstsein von Menschen, die Schuhe für zwei Euro kaufen und um die halbe Welt schicken lassen?

Das ist eine ganz schwierige Frage. Wie viele Dokumentationen über Primark hat es gegeben? Trotzdem kaufen die Leute dort weiter ein. Anbieter wie Temu oder Shein treiben das noch mal auf die Spitze und erzeugen unglaublich viel Müll. Ich wünschte mir sehr, dass es verantwortungsvolleres Verbraucherverhalten gäbe, aber das Rezept, wie man die Leute wirklich auf das Problem aufmerksam macht, habe ich leider auch nicht.

Recycling gibt uns das gute Gefühl, einen Beitrag zu leisten. Dabei wird unser Plastikmüll auch in Länder des globalen Südens exportiert, wo er häufig nicht fachgerecht entsorgt wird und Luft, Böden und Gewässer verschmutzt.

Es ist ein weitverbreitetes Missverständnis, dass das Recyclingproblem schon erledigt sei, wenn man den Müll gesammelt hat. Da fängt es aber eigentlich erst an: Was machen wir damit? Daran sind schon viele Gesellschaften gescheitert, unter anderem die DDR. Die hat zwar unglaublich viel gesammelt, aber erstaunlich wenig wiederverwertet - weil das eben kompliziert und teuer ist. Man könnte die Recycling-Infrastrukturen für die Kunststoffe hier aufbauen, aber wegen der enormen Investitionen steigen dann die Müllgebühren. Der Export ist in vielen Fällen die einfachere Lösung und etwas anderes durchzusetzen, wäre mit hohen politischen Kosten verbunden.

Mit Roman Köster sprach Torsten Landsberg

Quelle: ntv.de

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