"Papa, bist du ein Mörder?" Wie ein Minenbauer zum Minenräumer wurde


Die Ottawa Konvention verbietet den Einsatz von Landminen seit 1997.
(Foto: picture alliance / dpa)
Lange Zeit baut Vito Alfieri Fontana in seinem Familienunternehmen Landminen. Den Tod und die Verstümmelungen, die seine Produkte anrichten, blendet er aus. Dann bringt ihn eine Frage seines Sohnes zum Nachdenken - und er krempelt sein Leben komplett um.
"Wie viele der von mir für Tecnovar entwickelten Personenminen Menschen tödlich verletzt oder lebenslänglich verstümmelt haben, kann ich nicht sagen", sagt Vito Alfieri Fontana bei einem Treffen mit der Auslandspresse in Rom. "Wenn wir von zwei Millionen Stücken ausgehen und, sagen wir, ein Prozent davon explodiert ist, wären es 20.000. Grauenhaft!" Anlass des Treffens ist das autobiografische Buch "Ich war der Mann des Krieges. Mein Leben vom Waffenhersteller zum Minenräumer" (auf Italienisch erschienen bei Laterza), das Fontana zusammen mit dem Journalisten Antonio Sanfrancesco geschrieben hat.
Fontana ist Ingenieur, etwas über 70 Jahre alt und stammt aus der apulischen Stadt Bari. Sein erstes Leben als Minenentwerfer liegt lange zurück, sein zweites als Minenräumer startete 1999, bis 2018 war er im Kosovo, in Serbien und in Bosnien im Einsatz. Trotzdem sieht man ihm an, dass ihn die Fragen über die Verletzten und Gestorbenen, über die verursachten Verstümmelungen noch immer tief berühren.
Schockiert hatte ihn die Frage, die ihm sein Sohn eines Tages nach der Schule gestellt hatte: "Papa, bist du ein Mörder?" Für einen Moment war der damalige Minenhersteller sprachlos und hatte dann fast unbeholfen darauf geantwortet: Würde er die Minen nicht herstellen, täten es andere. Sein Sohn aber ließ nicht locker: "Stimmt, aber warum musst gerade du sie bauen?"
Die internationalen Antiminenkampagnen waren in den 1980er-Jahren gestartet, nahmen aber erst Anfang der 90er-Jahre richtig an Fahrt auf. Fontana hatte davon nicht viel registriert. Es war erst die Bemerkung seines Sohnes, die ihn wachrüttelte. Davor hatte er sich keine allzu tiefgründigen Fragen gestellt.
Das Gewissen hatte dort nichts zu suchen
"Wenn ich zum Entwurf einer neuen Mine ansetzte, stellte ich mir den Soldaten vor, der über das verminte Feld läuft: 'Der denkt wohl, er kann mich austricksen, weil er rennt. Ich entwerfe aber eine Mine, die auch auf flüchtigen Druck reagiert", schreibt Fontana im Buch. Bei der Pressekonferenz gestand der frühere Minenbauer: "Erst als ich mich zum ersten Mal auf einem Minenfeld befand, wurde mir bewusst, was es bedeutet, zu wissen, dass man bei jedem Schritt in die Luft fliegen könnte."
In den 80er-Jahren zählte Italien zu den weltweit größten Landminenherstellern und Tecnovar zu den drei wichtigsten Konzernen auf diesem Gebiet in Italien. Die Geschäfte liefen blendend. Das Unternehmen verkaufte in die USA, an Kanada und Südkorea, vor allem aber nach Ägypten. Fontanas Vater, ebenfalls Ingenieur, geriet in den 1960er-Jahren eher zufällig in die Branche der Minenhersteller. Sohn Vito stieg dann 1977 in das Familienunternehmen Tecnovar ein.
Fontana hält sich an die nackte Wahrheit, sucht keine Ausreden, auch wenn manche Beschreibungen fast schon unerträglich sind, und das anscheinend nicht nur für die Zuhörer. Er bestätigt: "Ja, das stimmt. Ich muss das aber machen." Vielleicht auch, weil er in seinem ersten Lebensabschnitt einen Teil der Wahrheit ausgeblendet hatte, wie er zugibt. "In dieser Branche hat das Gewissen nichts zu suchen. Die Tauglichkeitsproben machten wir mit einer Stahlplatte von 20 Zentimeter mal 20 Zentimeter mal 5 Millimeter."
Kartons mit nur einem Schuh
Die Frage seines Sohnes, ob er ein Mörder sei, hatte den ersten tiefen Sprung in den Panzer gerissen, den er sich zugelegt hatte. Hinzu kam der Druck von außen. Die Minenhersteller standen immer mehr im Visier von Protestaktionen. Fontana erzählt von den unzähligen Schuhkartons, die bei ihm abgegeben wurden. Darin waren nur ein Schuh und ein Zettel, auf dem stand: "Den brauche ich nicht mehr."
Den Entschluss, keine Minen mehr zu entwerfen, fasste Fontana relativ schnell. Ihn umzusetzen, war aber alles andere als leicht und forderte große Entschlossenheit. Denn da war der Vater, der nicht wollte, dass sein Lebenswerk zerstört wurde. Und da waren die 80 Mitarbeiter, denen Fontana den Arbeitsplatz sichern wollte. Zwar hoffte er, die Produktion umzufunktionieren zu können, aber es gelang ihm nicht. 1997 schloss Tecnovar endgültig und die Beziehung zum Vater verschlechterte sich noch mehr.
Am 14. Dezember 1997 wurde die Ottawa-Konvention unterschrieben, die den Einsatz, die Lagerung, die Herstellung und Weitergabe von Antipersonenminen verbietet und deren Vernichtung genau regelt. Fontana war bei den Besprechungen im September 1997 in Oslo als Berater der Internationalen Kampagne für das Verbot von Landminen anwesend, die 1992 von der Aktivistin Jody Williams gegründet worden war. Williams und die Kampagne wurden 1997 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Laut der International Campaign haben bis heute insgesamt 164 Staaten die Konvention ratifiziert oder unterschrieben. Nicht dabei sind die USA, Russland, China und Indien.
Dass er angesichts seiner Vergangenheit in Oslo anwesend war, konnte man als wichtige Etappe in seinem "Bekehrungsprozess" bewerten. Was aber das Misstrauen und die offene Feindseligkeit, die ihm die Nichtstaatliche Organisationen (NGOs) entgegenbrachten, nicht minderte. Weswegen sie ihn auch nicht als Minenräumer wollten, obwohl sein Fachwissen als ehemaliger Minenbauer sehr hilfreich gewesen wäre. Erst nach langem Suchen heuerte ihn Intersos an, eine internationale Organisation mit Sitz in Italien.
"Der ist doch ganz und gar verdorben"
Am 15. September 1999 begann sein zweites Leben. Mit einer Frachtmaschine flog er nach Pristina. Er hatte sich am neuen Arbeitsplatz noch nicht einmal richtig vorgestellt, da hörte er zwei Kollegen sagen: "Der soll mit uns arbeiten? Der ist doch ganz und gar verdorben." Es blieben nicht die einzigen Begegnungen mit seiner Vergangenheit.
Tecnovar hatte nach der Schließung Materialien, Maschinen und Technologien protokollmäßig vernichtet. Nichtsdestotrotz tauchten vereinzelt Minen auf, die auf das Unternehmen zurückzuführen waren. 2004 war Fontana in Sarajevo, als auf seinem Schreibtisch eine Mine landete, die ihm bekannt vorkam. Und tatsächlich handelte es sich um ein Modell, das sein Vater 1964 entworfen hatte. Er erinnerte sich noch, wie dieser damals stolz sagte: "Jetzt zeigen wir es den Deutschen. Von so einer Landmine können die nur träumen." Und Deutschland sowie andere Staaten kauften auch Prototypen davon. "In die Produktion kam das Modell aber nie", fährt Fontana fort. Eigentlich hätten sie entsorgt werden müssen, "doch das erfolgt nicht immer vorschriftsmäßig".
Trotz des Ottawa-Abkommen werden Landminen weiter gebaut und eingesetzt. Laut dem Landmine-Monitor Report 2022 setzte Russland gegen die Ukraine mindestens sieben Modelle ein. Auf die Frage, wie lange es dauern wird, das Land nach dem Krieg davon zu säubern, meint Fontana: 20 Jahre bei Kosten von 150 Millionen Euro jährlich. Denn der Krieg zerstört in einer Sekunde, der Wiederaufbau aber ist mühsam und langsam.
Quelle: ntv.de