Die Psychologie des Waldes "Bäume zu umarmen, ist kein esoterischer Schnickschnack"
14.08.2024, 18:13 Uhr Artikel anhören
Grün heißt nicht umsonst "die Farbe der Hoffnung".
(Foto: dpa)
Bäume umarmen, Spaziergänge, die richtige Atmung: Das ist kein Eso-Quatsch, sondern gelebte Selbstfürsorge. Der Wald macht uns widerstandsfähiger und gesünder - davon ist Suse Schumacher, Coachin, Psychologin und Autorin, fest überzeugt. Mit ntv.de streift sie zumindest durch den Blätterwald und erklärt, wie "mein Freund der Baum" in den Alltag integriert werden kann.
ntv.de: Am Anfang des Buches beschreibst du, dass du und dein Mann eine Ehekrise hattet, das ist mutig. Welchen Anteil hatte der Wald dann an der Überwindung der Krise?
Suse Schumacher: Der Wald hatte einen sehr großen Anteil, weil er mich getröstet und geerdet hat. Für mich war diese Krise ein emotionaler Ausnahmezustand. Während ich in meiner Verzweiflung durch den Winterwald stapfte, fielen mir die Tage meiner Kindheit wieder ein: Als Kind war ich voller Vertrauen und streifte stundenlang allein im Wald umher. Ich habe Tiere, Pflanzen und das Wetter beobachtet und es war irgendwie klar, dass ich dorthin gehöre. Das Leben in der Stadt als Berufstätige und Mutter zweier Söhne, erst in Hamburg, dann in Köln und jetzt in Berlin, forderte mich so heraus, dass ich meine Naturverbundenheit vergaß. Im Wald kamen all diese schönen frühen Momente meiner Kindheit wieder zum Vorschein. Ich wusste plötzlich, dass diese Krise nicht das Ende meines Lebens bedeutet und ich es in der Hand habe, wie ich damit umgehe. Statt mich als Opfer der Umstände zu beweinen, wusste ich, dass ich das Alte loslassen muss, damit Neues entstehen kann. Auch wenn in diesem Moment nicht klar war, ob ich mit meinem Mann zusammenbleibe, haben mir diese Gedanken Mut gemacht. Letztlich hat mein Loslassen ein erneutes Aufeinanderzugehen wieder möglich gemacht. Inzwischen bin ich mit meinem Mann seit 30 Jahren verheiratet.
Wie baue ich den Wald ins Leben ein?
Klar, dass wir nicht ständig im Wald sein können. Es reicht aber schon, wenn ich mir ein schönes Bild von meinem letzten Waldbesuch mit nach Hause nehme und gut sichtbar aufhänge, da jedes Mal, wenn ich es mir anschaue, all die damit verbundenen positiven Gefühle wieder in mir aufsteigen. Alternativ kann ich mich auch an einen schönen Ort in meiner Kindheit erinnern. Für viele Menschen sind dies Orte in der Natur. Wenn ich mir mit geschlossenen Augen vorstelle, dass ich dort bin, hat dies ähnliche Effekte, wie wenn ich tatsächlich dort wäre. Unser sinnliches Körpergedächtnis wird dabei angesprochen und erzeugt die damit verbundenen positiven Erinnerungen und Gefühle.
Und wie kriegst du den Wald in eine Stadtpflanze? Also in Typen wie mich, die nicht so viel mit Bäume umarmen anfangen können, grundsätzlich aber offen sind …
(lacht) Zunächst: Einen Baum zu umarmen, ist kein esoterischer Schnickschnack, sondern boostet unser Immunsystem. Bäumen produzieren Harze, um sich zu schützen. In ihnen befinden sich Duftstoffe, auch Terpene genannt, von denen einige wiederum das Immunsystem von uns Menschen boostern, also unsere Killerzellen erhöhen, die wir brauchen, um uns gegen eindringende Viren und Bakterien zu schützen. Der Wald macht uns in gewisser Weise widerstandsfähiger und gesünder. Gleichzeitig sorgen der Gesang der Vögel, das Blätterrascheln der Bäume oder der Geruch von Moos, Holz und Erde dafür, dass wir uns körperlich und dadurch auch geistig entspannen. Als Stadtpflanze würde ich dir also vorschlagen, doch einfach mal an einem Waldtag mitzukommen und dich überraschen zu lassen. Ich bin sicher, du kommst anders wieder heraus und wirst bei deinem nächsten Waldbesuch einen anderen, neuen Zugang haben.
Atmen, meditieren, singen, Selbstfürsorge - haben wir die elementaren Dinge, die uns helfen können, einfach vergessen? Oder wurden sie uns abtrainiert? Schon in der Schule beispielsweise.
Ja, für mein Verständnis haben wir uns ganz schön weit aus der ehemaligen Verbindung mit dem Wald gelöst, wenn du bedenkst, dass die Menschheit über Jahrmillionen mit und in der Natur gelebt hat. Evolutionär gesehen steckt ein Natur-Mädel oder -Bursche immer noch in unseren Genen. Das kann man wunderbar an kleinen Kindern beobachten, die selbstversunken und glücklich in der Natur spielen. Die Schule, die du ansprichst, verändert unsere Beziehung zur Natur insofern, als sie kognitive Fähigkeiten, sprich Rechnen, Lesen, Schreiben und Wissen vermittelt. Statt draußen zu spielen und Dinge sinnlich zu erfahren, verlagert sich der Fokus ab dem sechsten Lebensjahr plötzlich auf das Stillsitzen und geistige Lernen. Gleichzeitig hat der Beginn der Industrialisierung vor ungefähr 250 Jahren dafür gesorgt, dass wir kaum noch einen direkten Bezug zur Natur, beispielsweise zu unserer Nahrung, haben. Wir leben hinter Mauern, schützen uns vor der Natur und nehmen uns als getrennt von ihr wahr. An indigenen Völkern wie den Huni Kuin, die im Amazonasgebiet in Brasilien leben und mit denen ich ein Interview für mein Buch gemacht habe, sieht man, wie es auch anders geht: Die Huni Kuin beschreiben sich als ein Teil der Natur. Sie sind der Wald.
Wie wichtig ist es, richtig zu atmen?
Richtiges, tiefes Atmen ist immer richtig, wichtig und vor allem gesund. Erstens entspannen wir uns, wenn wir tief in den Bauch ein- und ausatmen, da der Parasympathikus dabei angesprochen wird, der ein Teil des vegetativen Nervensystems ist. Sind wir entspannt, werden wir weit im Denken, das heißt, wir finden eher kreative Lösungen für ein Problem. Wenn wir im Wald tief atmen, atmen wir auch die Terpene oder Duftstoffe der Bäume mit ein, die unser Immunsystem unterstützen. Gewöhnen wir uns an, mehrmals am Tag tief ein- und auszuatmen, beugt dies auch Stress vor. Mag der Alltagsstress auch noch so groß sein, durch die tiefe Atmung gewinnen wir Abstand davon und handeln am Ende überlegter und ruhiger, wovon wiederum auch unsere Mitmenschen profitieren. Richtig zu atmen hilft also enorm.
Du schreibst von Seele und Herz, und dass das Herz dir näher ist, hatte ich den Eindruck. Was ist mit dem Bauchgefühl?
Die Intuition oder umgangssprachlich "das Bauchgefühl" wird durch das Herz gespeist. Das Herz ist mehr als nur ein Organ, das unser Blut durch den Körper pumpt. Es ist auch ein Resonanzraum, mit dem wir in Verbindung treten mit allem Lebendigen, anderen Menschen, Pflanzen, Tieren oder vielleicht auch etwas Höherem wie Gott. Gleichzeitig stellt das Herz die Verbindung zwischen Körper und Geist her. Es ist sicherlich nicht zufällig, dass das über 2500 Jahre alte Yoga das Herzchakra als Verbindungsstelle zwischen unten (Körper) und oben (Geist) beschreibt und die Farbe dieses Chakras Grün ist. Auch in der Meditation, wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf den Atem legen, ist es der Brustraum, also dort, wo unser Herz und unsere Lunge liegen, den wir betrachten. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir unserem Herzen wieder mehr Beachtung schenken sollten, auch um ein Gegengewicht zu unserer Kopflastigkeit und damit unserem Denken herzustellen. Denn das Herz bewertet nicht, sondern macht uns zu empathischen und mitfühlenden Wesen.
Frieden findet man nur im Wald, zitierst du Michelangelo. Was ist mit Bergen, Seen, Meer?
In der Naturtherapie lernst du, dass jede Naturlandschaft ihre eigene Qualität hat. Der Wald steht für das Unbewusste, das Verschüttete. Gleichzeitig bietet der Wald Schutz und Ruhe. Michelangelo scheint seinen Frieden im Wald gefunden zu haben. Ich würde aber nie bestreiten, dass es nicht auch Menschen gibt, die ihren Frieden auf einem Berg, an einem See oder am Meer finden.
Du stellst die Natur der Kultur gegenüber - funktioniert beides zusammen nicht am besten? Oder beides abwechselnd?
Ich denke, dass das eine Frage der Perspektive ist. Natur ist für mich etwas, das aus sich heraus entsteht und in permanenter Veränderung ist. Kultur ist etwas Menschengemachtes, das aus Werten, Regeln und aus religiösen Vorstellungen, um nur einige zu nennen, entstanden ist. Kultur und Natur können natürlich auch zusammen funktionieren, wenn sie gleichberechtigt sind. Leider glauben wir aber nach wie vor, dass wir mit der Natur alles machen können: Wir greifen ein, verändern und zerstören sie mehr, als dass wir sie schützen und erhalten. Das wird uns eines Tages äußerst schmerzhaft auf die Füße fallen. Deswegen ist ein Anliegen meines Buches auch, Menschen Anregungen zu geben, wie sie selbstwirksamer werden und hoffentlich auch erkennen, was für einen Schatz wir da vor unseren Haustüren haben. Es ist dringend an der Zeit, sich für den Wald und die Natur einzusetzen und sie für unsere Kinder und Enkel zu erhalten und zu schützen.
Ist ein Park ein "Wald light"?
Das liegt am Ende immer im Auge des Betrachters. Auf jeden Fall ist er Natur, wenn auch kulturell angelegt. Ich würde aber vom Berliner Tiergarten nie von einem Wald sprechen.
Terpene, du hast sie bereits erwähnt, können was genau?
Terpene sind pflanzliche Botenstoffe, die von Bäumen ausgestoßen werden, um sich zu schützen oder auch die Wolkenbildung anzustoßen, indem sie sich an winzige Wassertropfen binden, die wiederum als Regen auf die Erde kommen. Einige dieser Terpene wirken gesundheitsfördernd, indem sie unsere Abwehrkräfte stärken. Während eines Waldaufenthalts erhöht sich nachweislich die Zahl unserer natürlichen Killerzellen, die geschädigte, fremde oder virusinfizierte Zellen im Organismus erkennen und Eindringlinge abtöten. Studien zeigen, dass ein einziger Tag im Wald die Zahl der natürlichen Killerzellen durchschnittlich um 40 Prozent steigert. Dieser Effekt ist auch sieben Tage später noch messbar und lässt sich durch häufige Waldaufenthalte noch steigern und verlängern.
Ein Tag im Wald also und die Killerzellen sprießen. Sind wir demnach selbst schuld, wenn wir krank werden?
Ich würde in diesem Zusammenhang nicht von Schuld sprechen, sondern eher positiv formulieren: Wir können selbst viel vorbeugend für unsere Gesundheit tun. Wenn wir krank werden, ist ja meistens eine Dysbalance im Körper entstanden, die wiederum möglicherweise auf unsere Lebensführung zurückzuführen ist. Die gesundheitsfördernden Faktoren wie gute Ernährung, ausreichend Schlaf, Bewegung und soziale Beziehungen sind alle bekannt. Wenn ich mich jedoch verbissen an all dies sklavisch halte und darüber vergesse, zu leben, Spaß zu haben, zu lachen, dankbar zu sein, zu lieben oder einfach nur glücklich zu sein, dann kann das auch krank machen. Insofern denke ich, dass der beste Weg ist, beides im Auge zu behalten: Nicht zu viel grübeln oder sich Sorgen machen und einfach mal dankbar sein, dass ich in einem demokratischen Land lebe, wo viel möglich ist.
Achtsamkeit klingt ähnlich unsexy wie Nachhaltigkeit, dennoch sind das die Gebote der Stunde, oder?
Absolut, weil die Achtsamkeit uns ermöglicht, in der Gegenwart zu bleiben und den Dingen die Aufmerksamkeit zu geben, die es braucht, um gut für sich zu sorgen und das eigene Leben als lebenswert zu erfahren.
Ist es irgendwann zu spät, sich umzustellen? Kann ein 57-jähriger Körper noch all die Sünden verzeihen, die er bis dahin ertragen musste?
(lacht) Das hängt von dir selbst ab. Wie schaust du auf dein Leben? Ist dein Glas halb leer oder halb voll? Es gibt Studien, die zeigen, dass selbst schwer kranke, ältere Menschen, die einen Sinn in ihrem Leben gefunden haben und dankbar auf ihr Leben schauen, sich weniger krank wahrnehmen, als sie objektiv betrachtet sind. Es hängt also am Ende immer auch von deiner Selbstwahrnehmung ab und ob du dich als Opfer der Umstände oder als Gestalterin deines Lebens siehst.
Wie kriegst du am schnellsten dein "Monkey Mind" zum Schweigen?
Sei achtsam mit dir und fang an zu meditieren. Das ist der einfachste Weg. Setze dich morgens für ein paar Minuten hin und konzentriere dich auf deine Atmung. Wahrscheinlich wirst du dann zunächst erstaunt feststellen, wie laut es in deinem Kopf zugeht. Das ist vollkommen normal und wird "Anfängergeist" genannt. Du kannst dich dann bei deinen Gedanken bedanken und ihnen sagen, dass du dich um alles kümmern wirst, sobald du mit dem Meditieren fertig bist. Dann kehre zu der Beobachtung deines Atems zurück. Bleib dran und mach eine Morgenroutine daraus. So lernst du dich und deinen "Monkey Mind" immer besser kennen und am Ende auch steuern, indem du mehr und mehr lernst, wie du deine Aufmerksamkeit verlagern kannst, um mehr in der Gegenwart anzukommen.
Hilft es dir wirklich, durch die "Brille" eines anderen, mit den Augen einer anderen Person, zu sehen?
Mir fällt dazu eine Klientin ein, die sich von ihrem Chef nicht wertgeschätzt fühlte. Als ich sie bat, aus der Rolle ihres Chefs heraus zu argumentieren, wurde ihr klar, dass sie ihm bislang gar nicht gesagt hatte, dass sie sich einen konstruktiven Austausch von ihm wünschte. Durch den Perspektivenwechsel oder, wenn du so willst, den Blick durch die Brille des Chefs, fand sie eine gute Lösung für sich.
Was ist dein Lieblingsritual, wenn du zu viel Stadt, zu wenig Wald und zu wenig Zeit hast?
Dann mache ich einen Schönheitsspaziergang und freue mich über die Pflanzen, Vögel und Bäume in den Vorgärten in unserem Viertel. Das hilft oft schon, um den Kopf freizubekommen, den Körper zu aktivieren und in eine positive Stimmung zu kommen, um mich danach wieder meinen Tagesaufgaben zu widmen.
Wenn du ein Baum wärst - welcher?
Ich glaube, ich wäre eine große, stattliche Blutbuche oder vielleicht auch eine Sommerlinde mit duftenden Blüten und großen, samtenen Blättern.
Mit Suse Schumacher sprach Sabine Oelmann (eher Typ Kaktus)
Quelle: ntv.de