Ungezählte Tode im Jemen "Alle zehn Minuten stirbt ein Kind"
05.05.2017, 15:30 Uhr
Eine junge Frau mit ihrem Neugeborenen in einem Flüchtlingslager bei Sanaa. Wenn Mütter krank werden, kann das für ihre Babys Lebensgefahr bedeuten.
(Foto: REUTERS)
Nach mehr als zwei Jahren Bürgerkrieg ist die Not im Jemen größer denn je. Im April appellierten die Vereinten Nationen an die Welt, dass eine immense Hungerkatastrophe die Bevölkerung heimsucht. Eine der Hilfsorganisationen vor Ort ist der Norwegische Flüchtlingsrat (NRC). Alvhild Strømme vom NRC berichtet bei n-tv.de von ihren Eindrücken.
n-tv.de: Wir hören aus dem Jemen dramatische Zahlen: Ein Drittel der Bevölkerung hungert, eine halbe Million Kinder soll lebensgefährlich unterernährt sein. Sie sind gerade aus dem Jemen zurückgekehrt - was haben Sie vor Ort gesehen?

Die Norwegerin Alvhild Strømme besuchte im April drei Wochen den Jemen. Zuvor arbeitete sie vier Jahre lang in dem Land für die UN und den NRC.
Alvhild Strømme: Die Jemeniten sind sehr stolz und ertragen sehr viel. Ich habe von Familien gehört, die lieber zuhause vor sich hin hungerten, als ihr Elend öffentlich zu zeigen. Deshalb sieht man auf den ersten Blick nicht lauter verhungernde Menschen. In der Hauptstadt Sanaa verliert gerade die Beamtenmittelschicht ihre Existenz. Ob Lehrer oder Ärzte – sie haben seit acht Monaten kein Gehalt mehr bekommen. Der öffentliche Sektor kollabiert im Moment vollends. Diese Mittelschicht bringt sich gerade um ihre letzten Existenzgrundlagen, verkauft vom Fernseher bis zum Auto alles – und wird bald mit nichts dastehen.
Seit März 2015 kämpft eine von Saudi-Arabien angeführte Koalition gegen die schiitischen Huthi-Rebellen, die zuvor in Teilen des Landes die Macht übernommen hatten.
Folgende Zahlen veröffentlichte die Weltgesundheitsorganisation:
- 19 Millionen der 27 Millionen Einwohner benötigen Hilfe.
- Nur noch etwa 45 Prozent der medizinischen Einrichtungen sind in Betrieb, 300 wurden zerstört.
Folgende Zahlen nannte der norwegische Flüchtlingsrat:
- 10 Millionen Menschen befinden sich im "Krisenmodus"
- 7 Millionen Menschen befinden sich am Rande einer Hungersnot.
- Nur 3 Millionen werden derzeit von Hilfsorganisationen erreicht.
- 500.000 Kinder sind akut mangelernährt.
Ich traf einen Vater in einem Krankenhaus, dessen fünf Monate alte Tochter dort wegen Unterernährung behandelt wurde. Er sagte: "Ich versuche zu arbeiten, aber es gibt kein Geld. Ich versuche meine Familie zu ernähren, aber ich kann einfach nichts machen. Es gibt nichts in meiner Macht stehende, mein Mädchen zu retten." In diesem Fall war die Mutter durch eine Infektion geschwächt, sodass sie das Baby nicht mehr stillen konnte.
Die Hauptstadt ist für Hilfsorganisationen erreichbar, wie sieht es aber mit den ländlichen Gebieten aus?
In der Tat haben wir Probleme, dort überhaupt die Lage zu untersuchen. Menschen erzählten mir von ihren Verwandten, die außerhalb lebten. Sie könnten keinen Kontakt mehr zu ihnen herstellen. "Wir wissen, dass sie aus ihrem Haus fliehen mussten. Wo sie sind, gibt es keine Lebensmittel und kein Krankenhaus", sagten sie. Es gibt da draußen also ein immenses und nicht dokumentierbares Elend. In anderen Landregionen gibt es aber immerhin auf niedrigstem Niveau Landwirtschaft, sodass sich die Menschen etwas selbst versorgen können.
Wie kommen die Opferzahlen zustande?
Man kann davon ausgehen, dass die Zahl der Toten und Verletzten weit höher ist als offiziell erfasst. Bei Dauerbombardements, Stromausfällen, keiner Verfügbarkeit von Benzin kann man sich ausmalen, dass die Überlebenden andere Sorgen haben, als ihre Toten irgendwohin zu melden. Weniger als die Hälfte der medizinischen Einrichtungen funktioniert noch. Was heißt das? Es geht hier um ein Land, wo schon vor dem Krieg viele Menschen noch nie eine Arztpraxis von innen gesehen haben. Die Zahl zeigt also nicht die volle Dramatik der Lage. Im Jemen sterben zudem, anders als in Syrien, deutlich mehr Menschen an den Folgen des Krieges. Es ist wirklich schwierig, das in Zahlen zu fassen, aber relativ glaubwürdig stufen wir die Information ein, dass alle zehn Minuten ein Kind an vermeidbaren Krankheiten stirbt.
Auf den Fotos, die Hilfsorganisationen und Nachrichtenagenturen veröffentlichen, sieht man Kinder, die nur noch Haut und Knochen sind. Die übrigen Menschen sehen aber zum Teil einigermaßen okay aus. Wie ist das zu erklären?
Fatal ist, wenn Hunger und Krankheiten zusammenkommen. Kinder sind von einem Mangel an Nahrung deutlich schneller geschwächt. Sie erkranken dann leicht an Cholera, Durchfall oder Würmern. Kinder brauchen zudem mehr Nährstoffe. Die betroffenen Familien haben häufig zwar etwas zu essen, aber nur Brot. Wenn Kinder nur Brot essen, sind sie im Nu unterernährt. Erwachsene können das eine längere Zeit ausgleichen.
Ich traf zum Beispiel eine Mutter, deren Kinder alle gesund waren bis auf eines. Sie brachte es ins Krankenhaus. Nach einer Woche wurde das Kind entlassen. Die Mutter bekam Nährstoffrationen für das mangelernährte Kind mit nach Hause, um die Behandlung fortzuführen. Weil die anderen Kinder aber auch zu wenig hatten, teilte sie die Päckchen auf. So wurde das schwache Kind bald wieder krank.
Die saudische Militärkoalition hat gedroht, die Hafenstadt Hudaida zu bombardieren. Was würde dann passieren?
Vor dem Krieg wurden bereits 90 Prozent aller Lebensmittel im Jemen importiert und davon kamen 80 Prozent über Hudaida ins Land. Dank dieses letzten Zugangs gibt es überhaupt noch die Möglichkeit, ab und zu Lebensmittel ins Land zu bringen. Es ist schwer vorstellbar, wie eine der Kriegsparteien, die sich auch nur ein bisschen um die Zivilbevölkerung schert, diesen Hafen zerstört. Die Saudis sollen in Hudaida Flyer jedoch abgeworfen haben, die die Menschen aufriefen, sich auf ihre Seite zu stellen, sonst würde der Hafen bombardiert. Das wäre eine absolute Katastrophe.
Sehen Sie eine Chance, dass der Konflikt doch noch politisch gelöst wird?
Der politische Wille dazu fehlt. Die UN versuchen das seit zwei Jahren, aber keiner scheint interessiert zu sein. Und wie (unser Vorsitzender) Jan Egeland schon gesagt hat: Dies ist ein Versagen der internationalen Diplomatie. Wenn die richtigen Leute den Krieg beenden wollen oder dazu gedrängt werden, dann kann das auch geschehen. Diese Hungersnot ist komplett menschengemacht. Hier haben politische Führer lieber ihre politischen und militärischen Ziele verfolgt und sich nicht um die Zivilbevölkerung geschert. Die zahlt seit mehr als zwei Jahren den Preis.
Mit Alvhild Strømme sprach Nora Schareika
Quelle: ntv.de