Politik

Nicht Kanzlerin, aber so ähnlich Annalena Baerbock ist mehr als nur angekommen

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Ist Deutschlands Gesicht in der Welt und damit durchaus einverstanden: Baerbock vor Pressevertretern.

(Foto: picture alliance / photothek)

In ihrem Kanzlerwahlkampf polarisiert Grünen-Spitzenkandidatin Baerbock und scheitert beinahe, auch wegen eigener Fehler. Ein Jahr später ist sie Außenministerin - und inmitten des Krieges die Ministerin mit den höchsten Zustimmungswerten. Beides steht in Beziehung zueinander.

Annalena Baerbock greift strahlend nach dem Seil am Fahnenmast und hisst die deutsche Flagge vor der wiedereröffneten Botschaft in Kiew. Es ist ein starkes Symbol, das am Montag von diesem Akt ausgeht, nicht nur für die Solidarität der Bundesrepublik mit der von Russland überfallenen Ukraine. Es steht auch für eine Frau, die angekommen ist in ihrer Rolle als eine der wichtigsten Entscheiderinnen des Landes inmitten der größten sicherheitspolitischen Herausforderungen der letzten Jahrzehnte.

Am Tisch mit Olaf Scholz

Am heutigen Montag stellt sich der Bundeskanzler den Fragen von Bürgerinnen und Bürgern: Um 22.15 Uhr zeigt RTL ein "RTL Direkt Spezial" mit Olaf Scholz. Moderiert von Pinar Atalay tragen vier Gäste dem Kanzler ihre Anliegen und Forderungen vor.

Als Russlands Truppen in der Nacht zum 24. Februar in die Ukraine einfallen, kommt aus Berlin das Signal zur Evakuierung der deutschen Botschaft. Bis dato hatte die Bundesrepublik an einem Verbleib in Kiew festgehalten, auch wenn bereits einige EU-Länder ausgeschert und aus Sorge um die Sicherheit ihr diplomatisches Personal zurückbeordert hatten. Baerbock und Bundeskanzler Olaf Scholz aber wollten bis zum Schluss an der Seite Kiews bleiben. Dabei drohte eine Wiederholung des erst wenige Monate zurückliegenden Kabul-Dramas, als Botschaftsmitarbeiter vor den überraschend einrückenden Taliban fliehen mussten.

Die meisten Beobachter, darunter auch weite Teile der Bundesregierung, rechneten zu Beginn der Invasion mit einem schnellen Durchmarsch Russlands. Es hätte für Baerbock durchaus im Desaster enden können: Die Außenministerin steht auch in der politischen Verantwortung dafür, erst in letzter Minute den Auftrag zur Evakuierung gegeben zu haben. "Ich habe schon gestern Abend entschieden, dass das noch verbliebene entsandte Personal der deutschen Botschaft in Kiew aus Sicherheitsgründen abgezogen wurde", teilt Baerbock am Tag darauf eher beiläufig in ihrer ersten Stellungnahme zum russischen Angriff mit. Es ist - nach dem heiklen Besuch bei Sergej Lawrow vor dem Krieg - ihr erster großer Druckmoment im Amt, aber nur einer von vielen in folgenden Wochen und Monaten des Krieges. Doch die 41-Jährige ist schon durchs Stahlbad gegangen, bevor sie eines der sichtbarsten und verantwortungsvollsten Ministerämter der Republik übernahm.

Plötzlich Beste

Vor einem Jahr, Mitte Mai 2021, erreicht die damalige Bundesvorsitzende der Grünen den vorläufigen Gipfel ihres Erfolgs. Sie hat sich im Ringen um die Kanzlerkandidatur gegen ihren Co-Vorsitzenden Robert Habeck durchgesetzt. Die Partei führt in Umfragen deutlich vor der Union, die SPD ist weit abgeschlagen. Da beginnen die Debatten um ihre Person: Es geht um ungenaue Angaben zu ihrem akademischen und beruflichen Werdegang, verspätet beim Bundestag gemeldete Einnahmen und schließlich um ihr peinlich schlecht zusammenkopiertes Buch.

Binnen weniger Wochen fallen die Grünen in den Umfragen auf Platz drei. Es hagelt kritische Kommentare, und die sozialen Medien - angestachelt auch von russischen Bot-Fabriken und Fake News - triefen vor Hass, Häme und plumper Frauenfeindlichkeit. Wie nah Baerbock in diesen Wochen daran ist, alles hinzuschmeißen, weiß wohl nur sie selbst.

Sie hält durch, nutzt das enttäuschende Wahlergebnis, um ihre Partei erstmals nach 16 Jahren wieder in die Regierung zu führen. Ein Jahr nach ihrem Gipfelsturz zählt die zweifache Mutter aus Potsdam zusammen mit Habeck zu den beliebtesten Politikern des Landes. Im RTL/ntv-Trendbarometer geben 61 Prozent der Befragten an, mit Baerbocks Arbeit zufrieden sein. Das ist der Bestwert in diesem Ranking. Die zu Wahlkampfzeiten besonders kritische "Bild"-Zeitung - die zusammen mit der "Welt", so schien es, Baerbock als Regierungschefin geradezu verhindern wollte - fragte in dieser Woche, ob Baerbock nicht die bessere Kanzlerin wäre.

Eine heikle Woche

So schnelllebig ist das Geschäft, wobei Baerbock auch von der anhaltenden Kritik am Kanzler profitiert: Scholz lässt ihr nicht nur den Raum, selbst zu glänzen - etwa mit dem Vortritt bei der ersten Kiew-Reise eines deutschen Regierungsmitglieds nach Kriegsbeginn. Scholz wird auch in der Kommunikation seiner Ukraine-Politik als nicht überzeugend wahrgenommen, während die Grünen in ihrer Haltung zu Russland und der Ukraine, zu Nord Stream 2 und Deutschlands Abhängigkeit von russischen Rohstoffen keine Anpassungen vornehmen müssen. Die bedeutsame Entscheidung für Waffenexporte in die Ukraine ist für Baerbocks Partei nur Folge einer zuvor schon eingenommenen Position, während die SPD seit Jahreswechsel eine außen-, sicherheits- und energiepolitische Kehrtwende vollziehen muss.

So wird denn auch Baerbock mit offenen Armen in Kiew empfangen: Neben Außenminister Dmytro Kuleba, mit dem sie regelmäßig spricht, nehmen sich auch Bürgermeister Vitali Klitschko und Staatschef Wolodymyr Selenskyj Zeit. In der Ukraine wird die innenpolitische Debatte der als europäische Führungsnation wahrgenommenen Bundesrepublik aufmerksam verfolgt. Dass die Grünen schon länger für eine robuste Unterstützung der Ukraine werben, ist nicht unbemerkt geblieben. Nach der Reise gibt es Lob von allen Seiten - aus den eigenen Reihen, von Klitschko, aus der CDU.

Erstaunlich trittfest

Als sich gegen Ende derselben Woche die G7-Außenminister und anschließend die NATO-Außenminister in Deutschland treffen, führt Baerbock die Gespräche an. Es ist an ihr, weitreichende Beschlüsse zu verkünden: dass das G7-Staatenbündnis entschlossen an der Seite der Ukraine bleiben und russische Gebietseroberungen, einschließlich der Krim, "niemals" akzeptieren werde; dass die NATO den historischen Beitrittswunsch Finnlands und Schwedens begrüßt.

Mit der türkischen Drohung eines Vetos gegen diesen Beitritt droht eine kleine Krise, die umgehend diplomatisch ausgeräumt wird. Baerbock spricht viel Englisch, kann auch vor der Presse sicher über diplomatisch heikle Themen reden. Auch wenn niemand auf die Idee käme, sie für eine Muttersprachlerin zu halten: Der hässliche Wahlkampf-Spott über ihre Sprachkenntnisse wirkt wie aus einer anderen Zeit.

Der Bundeskanzler überlässt Baerbock viel Platz auf der politischen Bühne. Da war es ihrem Vorgänger Heiko Maas unter Angela Merkel ganz anders ergangen. Doch auch die Bundesregierung als Ganze könnte von Baerbocks Amtsführung profitieren. Ihre Entschlossenheit, ihre klare Kommunikation und auch die im Wahlkampf erlernte Härte lassen die Grüne auf dem rutschigen diplomatischen Parkett erstaunlich trittfest wirken. Es passiert ihr, bei allen Versprechern, auch seltener, dass sie zu schnell redet und sich die Stimme überschlägt. Optisch ist sie selbstbewusst, scherzt mit ihren hochrangigen Gästen und setzt sich mit ihren Kostümen auf Gruppenbildern farblich von den vielen Anzugträgern ab.

Auf Augenhöhe mit den Menschen

Empathie zu zeigen, ungezwungen mit Menschen zu reden und mitzufühlen, zählte schon im Bundestagswahlkampf zu ihren unbestrittenen Stärken. Im Kiewer Vorort Butscha, wo russische Soldaten besonders grausam gewütet haben, gelingt ihr das eindrücklich, als sie ihre Gespräche vor Pressevertretern zusammenfasst. Auch der Besuch der Außenministerin auf einem Markt im bitterarmen Niger, wo sie probehalber zwei mit Melonen gefüllte Eimer einer Marktfrau in die Höhe stemmt, zeugen von diesem Talent, nahbar zu sein, ohne sich allzu sehr zu inszenieren.

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Baerbock in Niger: Dieses Bild ging um die Welt.

(Foto: picture alliance/dpa)

Dabei hinterlässt die Afrika-Reise neben Bildern, die um die Welt gingen, vor allem Eindruck bei Baerbock. Sie ist ernsthaft besorgt um die sich anbahnende Ernährungskrise, wegen der Ernteausfälle in der Ukraine. Sie sieht die Auswirkungen des Klimawandels auf die Lebensumstände der Menschen und spricht über die potenziell destabilisierenden Auswirkungen auf ganze Regionen. "Wir sehen und wir hören euch und wir haben eine Verantwortung dafür, dass dieser Hurrikan von Krisen irgendwie in den Griff bekommen wird hier vor Ort", sagt Baerbock nachdem sie mit geflüchteten Familien und Schulkindern gesprochen hat. Zurück in Berlin wirbt Baerbock erfolgreich dafür, dass die Bundeswehr ihren Einsatz zum Schutz der Zivilbevölkerung im Nachbarland Mali fortführt - trotz hoher Risiken, großer Kosten und überschaubarer Popularität in Deutschland.

Kann die das?

Unter der Ampelkoalition übernimmt Deutschland noch mehr internationale Verantwortung, und es ist leicht, sich hier zu verzetteln als Außenministerin. Die Liste akuter Krisenherde ist damit ja fern von vollständig. Befeuert vom russischen Präsidenten könnte der Konflikt um den serbischen Teil Bosnien-Herzegowinas jederzeit eskalieren. Baerbock befürchtet eine Destabilisierung Moldaus mit der russisch finanzierten Separatistenregion Transnistrien. Hinzu kommen Deutschlands Verantwortung für das weitere Schicksal Afghanistans, Konflikte um Rechtsstaatlichkeit und Demokratie mit vermeintlichen Partnerländern wie Polen, Ungarn und Türkei. Zudem hat Baerbock in den Koalitionsverhandlungen die Klima-Diplomatie aus dem Umweltministerium herausgelöst und an sich gezogen. Es sind sehr viele Brände, die die fraglos selbstbewusste und ehrgeizige Außenministerin, wenn schon nicht löschen, so doch im Blick behalten muss.

Vor diesem Hintergrund tut Baerbock gut daran, ihre Zustimmungswerte erst einmal außer Acht zu lassen. Von der populären und aussichtsreichen zur blamierten und gescheiterten Kanzlerkandidatin hin zur meist geachteten Bundesministerin hat es schließlich nur zwölf Monate gebraucht. Ihre Reise als Außenministerin hat gerade erst begonnen. Ob Deutschland einer vergleichsweise jungen, mit Exekutivposten unerfahrenen Frau eines der höchsten Regierungsämter anvertrauen kann - was sich im vergangenen Sommer so viele Menschen gefragt haben - ist deshalb noch nicht abschließend beantwortet. Die Tendenz aber ist, für nicht wenige überraschend, positiv.

Quelle: ntv.de

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