Sevim Dagdelen über "Aufstehen" "Wir wollen dagegenhalten"
04.09.2018, 07:16 Uhr
Sevim Dagdelen ist stellvertretende Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag. Sie gilt als politische Verbündete von Fraktionschefin Sahra Wagenknecht.
(Foto: picture alliance / Britta Peders)
Der Sozialstaat biete keine Sicherheit mehr, sagt Linksfraktionsvize Sevim Dagdelen. In Deutschland gebe es den großen Wunsch "nach einer tiefgreifenden Veränderung". Dafür will die Sammlungsbewegung "Aufstehen" sorgen, die heute in Berlin vorgestellt wird.
n-tv.de: Was läuft falsch in Deutschland, warum braucht dieses Land eine linke Sammlungsbewegung?
Sevim Dagdelen: Der Sozialstaat gibt keine Sicherheit mehr, jeder kämpft für sich allein. 41 Prozent aller Neueinstellungen sind heute befristet. Wie soll man da mit Zuversicht in eine planbare, sichere Zukunft blicken? Wer seine Arbeit verliert oder länger krank wird, landet ganz schnell ganz unten. Während die Reichen immer reicher werden, haben die unteren 40 Prozent der Bevölkerung heute weniger Kaufkraft als Ende der Neunzigerjahre. Mittlerweile leben 4,4 Millionen Kinder in Armut, Tendenz steigend. Das ist doch eine Schande. Der Unmut über diese Entwicklung ist groß, ebenso der Wunsch, dies zu ändern. Die Sammlungsbewegung will dabei helfen, dass diese gesellschaftliche Mehrheit endlich auch eine politische wird.
Ist dieser Unmut auch einer der Gründe für die rechtsradikalen Proteste in Chemnitz?
Der gewaltsame Tod eines 35-jährigen Familienvaters in Chemnitz ist furchtbar und muss aufgeklärt werden. Die auf das Verbrechen folgenden Hetzjagden gegen Migranten in Chemnitz, das Skandieren von Naziparolen und das massenhafte Zeigen des Hitlergrußes sind Straftaten und ein Fall für den Staatsanwalt. Es ist nicht hinnehmbar, dass die AfD hier immer weiter Öl ins Feuer gießt, die Menschen gegeneinander aufhetzt und dabei vollkommen skrupellos den Tod eines Mannes instrumentalisiert, ohne jede Rücksicht auf trauernde Angehörige und Freunde. Rassistische Gewalt muss bekämpft und geächtet werden, in Chemnitz wie überall in Deutschland.
Hoffen Sie, mit "Aufstehen" auch sogenannte Wutbürger zu erreichen?
In vielen Ländern Europas können wir beobachten, dass der Zerfall der Sozialdemokratie mit starken Zugewinnen für die extreme Rechte und Rechtspopulisten gekoppelt ist. Wir wollen dagegenhalten. Die Linke steht stabil bei 9 bis 10 Prozent, bei der letzten Bundestagswahl haben wir 500.000 Stimmen dazugewonnen. Das ist nicht unbeachtlich. Aber es darf uns nicht egal sein, dass wir Arbeiter und Arbeitslose als Wähler verlieren und nicht stärker erreichen. Von den rund zehn Millionen Wählern, die die SPD seit 1998 verloren hat, sind lediglich zwei Millionen zur Linken gegangen. Ich sehe die Sammlungsbewegung als Aufbruch, der hilft, den Vormarsch der Rechten zu stoppen. Dafür wollen wir die sozialen Themen, die Millionen auf den Nägeln brennen, endlich wieder in den Mittelpunkt der gesellschaftlichen Diskussion stellen.
Der SPD-Politiker Johannes Kahrs sagt, Sahra Wagenknecht habe "Aufstehen" ins Leben gerufen, weil sie in der Linkspartei gescheitert sei.
Der enorm große Zuspruch für "Aufstehen" von mehr als 85.000 Menschen innerhalb von nur zwei Wochen und noch vor dem offiziellen Start zeigt, wie groß der Wunsch nach einer tiefgreifenden Veränderung ist. Johannes Kahrs Einlassungen zu "Aufstehen" kommen mir eher wie ein Pfeifen im Keller vor. Ich würde mir wünschen, dass Kahrs nicht weiter als Befürworter von Rüstungsexporten an Diktaturen und von Hartz IV ganze Arbeit am Niedergang der SPD leistet.
Aber Sahra Wagenknecht stößt selbst in der Linkspartei durchaus auch auf Ablehnung. Ist "Aufstehen" nicht ein Vorhaben, das so manchen in Ihrer Partei provozieren muss?
Sahra Wagenknecht und auch die Sammlungsbewegung "Aufstehen" stoßen bei Linke-Mitgliedern wie Linke-Wählern auf unheimlich große positive Resonanz. Das zeigen nicht nur viele persönliche Rückmeldungen, sondern belegen auch alle aktuellen Umfragen: Lediglich 4 Prozent der Linken-Anhänger lehnen die Sammlungsbewegung ab. Mit "Aufstehen" wollen wir sammeln, nicht spalten.
Innerhalb der Linken wird vor allem über die Flüchtlingspolitik gestritten. Tendenziell plädiert Sahra Wagenknecht für weniger Zuwanderung, während Parteichefin Katja Kipping sich eher für offene Grenzen einsetzt. Welche Position wird "Aufstehen" einnehmen?
"Aufstehen" wird das Asylrecht verteidigen und setzt sich für Hilfe für Menschen in Not ein. Schutz für Kriegsflüchtlinge und die Verteidigung des Asylrechts gegen immer weitere Einschränkungen durch die große Koalition sind Gemeinsamkeiten einer gesellschaftlichen Linken.
Lassen Sie uns ein paar weitere Themen durchdeklinieren. Wie steht "Aufstehen" zu Russland?
"Aufstehen" will die gefährliche Aufrüstungspolitik der Bundesregierung gegen Russland beenden. Wir brauchen eine neue Entspannungspolitik statt Säbelrasseln und Kriegsgeheul. Sicherheit in Europa kann es nur gemeinsam mit Ost und West, gemeinsam mit Russland geben.
Welche Rolle spielt die Klimapolitik, etwa mit Blick auf den Kohleausstieg?
Es braucht eine verlässliche Klimapolitik in Deutschland. Der Aufbau erneuerbarer Energien geht immer noch viel zu langsam voran. Ich persönlich wünsche mir, dass wir soziale Rechte mit Ökologie verknüpfen. Wenn in anderen europäischen Ländern ein kostenloser öffentlicher Nahverkehr möglich ist, warum tun wir uns damit so schwer? Gerade angesichts des Dieselskandals finde ich die Weiter-so-Politik der Bundesregierung beklemmend.
Das würden Grüne vermutlich auch sagen. Warum sollten Grünen-Anhänger oder gar Grüne bei Ihrer Bewegung mitmachen?
Die ökologischen Fragen sind nur lösbar, wenn die soziale Frage mit gestellt wird. Anders als bei der Grünen-Spitze ist dies vielen grünen Wählern sehr wohl bewusst, die auf soziale Gerechtigkeit und Ökologie setzen. Auch beim Thema Frieden gibt es hier ja eine große Diskrepanz. Während viele Grüne an der Basis zurück zu den grünen Wurzeln in der Friedensbewegung wollen, stellt sich dies an der Spitze ganz anders dar. Alle Umfragen zeigen, dass gerade bei der grünen Anhängerschaft das Potential für "Aufstehen" nach der Linken am größten ist.
Und wie hält "Aufstehen" es mit Europa?
Europa kann nur wachsen, wenn nicht weiter versucht wird, über die Köpfe der Bevölkerungen hinweg Entscheidungen zu treffen. Die EU muss von einem Transmissionsriemen der Globalisierung zu einem Schutzraum sozialer und ökologischer Standards werden. Wenn nur noch Entscheidungen zentral in Berlin oder Brüssel getroffen werden, steht dies im massiven Widerspruch zur europäischen Idee. Es braucht eine EU, in der die Souveränität der Staaten geachtet wird.
Sahra Wagenknecht hat gesagt, es gehe ihr nicht um eine Alternative zur Linkspartei, sondern um ein breiteres Bündnis. Können Sie ausschließen, dass aus "Aufstehen" nicht doch eines Tages zur Partei wird?
Wir gehören unterschiedlichen Parteien an oder sind parteilos. Viele von uns sind keine Politiker, und wir wollen auch keine neue Partei gründen. Wir wollen aufklären, Diskussionen organisieren, gesellschaftlichen Druck entfalten und die Politik verändern. Mittels einer modernen digitalen Struktur, aber auch auf der Straße. Wir werden interessanten Ideen und kreativen Gedanken ein Podium bieten. Es gibt in der Bevölkerung unbestreitbar Mehrheiten für eine andere Politik: Für höhere Löhne, für bessere Renten, für bezahlbare Mieten, für gerechtere Steuern und mehr Sicherheit, für Abrüstung und eine friedliche Außenpolitik statt immer neuer Auslandseinsätze der Bundeswehr. Was es braucht, ist ein Aufbruch für eine mehrheitsfähige Parteienkoalition, die eine solche Politik umsetzt.
Mit Sevim Dagdelen sprach Hubertus Volmer
Quelle: ntv.de