"Sehr wahrscheinliches Szenario" Bericht: Russland plant Großoffensive auf Charkiw
27.03.2024, 09:34 Uhr Artikel anhören
Charkiw wurde zu Beginn des russischen Angriffs im Frühjahr 2022 intensiv beschossen. Russische Einschläge haben speziell in den Außenbezirken deutliche Spuren hinterlassen.
(Foto: picture alliance / AA)
Die russischen Truppen sind in der Ukraine seit einiger Zeit wieder auf dem Vormarsch. Das große Ziel scheint die Einnahme der Millionenstadt Charkiw zu sein. Kremlnahe Quellen sprechen von einem "symbolischen Sieg", der aber auch strategische Bedeutung beim Schutz von Belgorod hätte.
Der russische Präsident Wladimir Putin erhofft sich von seiner Invasion der Ukraine offenbar in den kommenden Monaten einen weiteren Erfolg: Hochrangige russische Militärs seien zuversichtlich, die ostukrainische Großstadt Charkiw einnehmen zu können, berichtet die gut vernetzte Nachrichtenseite Meduza mit Sitz im lettischen Riga. Das unabhängige, exilrussische Portal beruft sich auf mehrere Quellen innerhalb der russischen "Eliten".
"Die Einnahme von Charkiw wäre ein symbolischer Sieg", zitiert Meduza eine den Angaben zufolge dem Kreml nahestehende Quelle. "Es ist eine Millionenstadt mit einer großen russischsprachigen Bevölkerung".
Zwar ist dem Bericht zufolge nicht bekannt, ob die Entscheidung für eine Großoffensive auf Charkiw bereits gefallen sei, aber die Quellen von Meduza sind sich einig: Es handelt sich um ein "sehr wahrscheinliches Szenario", das theoretisch eine neue Mobilisierungswelle erforderlich machen könnte.
Putin verlangt Pufferzone
In der vergangenen Woche hatte bereits das russische Exilmedium Verstka unter Berufung auf vier Insider von einer möglichen Offensive auf Charkiw berichtet. Demnach bereitet das russische Verteidigungsministerium derzeit eine verdeckte Mobilmachung von mindestens 300.000 neuen Soldaten vor. Ziel sei, Charkiw "einzukreisen", hieß es.
Hintergrund ist mutmaßlich der Wunsch Putins, eine "Pufferzone" im Norden der Ukraine einzurichten, um die russische Region Belgorod vor ukrainischen Angriffen zu schützen. Diese Pufferzone müsse so groß sein, dass es "schwierig wäre, sie mit den ausländischen Waffen, die dem Feind zur Verfügung stehen", zu überwinden, erklärte der Kremlchef. Sobald dies geschafft sei, werde Putin die "Militärische Spezialoperation", wie der Angriff auf die Ukraine in Russland nach wie vor genannt wird, schrittweise beenden, schreibt Meduza unter Berufung auf die Kreml-nahe Quelle. Die Region Belgorod grenzt direkt an Charkiw an.
Laut Meduza sind andere Insider allerdings überzeugt, dass Putin noch immer nicht von seinem ursprünglichen Kriegsziel abgerückt sei. Eine Quelle glaubt demnach, dass Putin die Ukraine nach der gescheiterten Gegenoffensive als schwach ansieht und bereit ist, "bis zum Sieg zu gehen, sogar bis nach Kiew, koste es, was es wolle".
Demnach sei Putin auch bereit, wenn nötig, "offen zur Mobilisierung aufzurufen": "Er wird die Wirtschaft noch mehr auf Kriegsfuß stellen. Er hält an seinen Prinzipien fest."
"Alles seit Langem vorbereitet"
Zumindest die Bewegungen an der Front scheinen zu bestätigen, dass der Kreml sein Augenmerk vorerst auf Charkiw gelegt hat: Oberst Markus Reisner, der den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine beobachtet und für ntv.de analysiert, erklärte vergangene Woche, Russland versuche, "durch Angriffe auf ukrainischem Territorium zwischen Sumy, Charkiw und Kupjansk den Druck auf die Ukraine zu erhöhen, ihre Angriffe südwestlich von Belgorod sowie ihre weiter reichenden Angriffe auf russische Raffinerie-Anlagen abzuschwächen". Die Städte Sumy und Kupjansk befinden sich im Nordosten der Ukraine um Charkiw herum und grenzen ebenfalls an die russische Region Belgorod.
Charkiw ist mit 1,5 Millionen Einwohnern nach Kiew die zweitgrößte Stadt der Ukraine. Mit mehr als 40 Universitäten und Hochschulen ist sie nach der Hauptstadt zudem das bedeutendste Wissenschafts- und Bildungszentrum der Ukraine. Viele Rüstungsfabriken sind in der Großstadt angesiedelt.
Nach Angaben von Meduza wird der jüngste Terroranschlag keinen Einfluss auf den Entscheidungsprozess in Bezug auf die Mobilisierung haben. "Alles ist schon seit Langem vorbereitet", sagte ein Gesprächspartner. "Es ist nur eine Frage der Situation an der Front."
Quelle: ntv.de, chr/ghö