
Ukroboronprom vereint die gesamte ukrainische Rüstungsindustrie unter einem Dach.
(Foto: picture alliance / Photoshot)
Unter dem Dach von Ukroboronprom ist die ukrainische Rüstungsindustrie versammelt. Doch bei der Produktion hakt es nicht nur wegen russischer Angriffe auf Panzer- und Munitionsfabriken. Der frühere Eisenbahnchef und ein junges Talent sollen das Ruder herumreißen.
Herman Smetanin ist seit dieser Woche der vielleicht wichtigste Manager der Ukraine. Der 31-Jährige ist neuer Chef des Staatskonzerns Ukroboronprom, in dem alle Unternehmen der ukrainischen Rüstungsindustrie versammelt sind. Von Präsident Wolodymyr Selenskyj hat er drei Aufgaben mit auf den Weg bekommen: Smetanin soll die Reform der Verteidigungsindustrie abschließen, die Branche von Korruption befreien und die Produktion von Waffen und Munition steigern, wie die ukrainische Wirtschaftszeitung "Ekonomitschna Prawda" berichtet.
Die Beförderung mag aufgrund des Alters überraschend klingen, die Entscheidung habe aber nichts mit Vetternwirtschaft oder Korruption zu tun, erklärt der ukrainische Journalist Denis Trubetskoy im Podcast "Wieder was gelernt" von ntv.de. Wer sich die Biografie von Smetanin anschaue, verstehe, dass die Ernennung verdient ist.
Tatsächlich nennt Trubetskoy diese Art von Personalentscheidung typisch für Selenskyj. "Seit er 2019 an die Macht kam, hat er viele Posten mit jungen Menschen besetzt, die sich aber bewährt und als fähig gezeigt haben", erklärt der Journalist. "Und Smetanin ist den Weg von einem einfachen Ingenieur bis zum Direktor einer wichtigen Rüstungsfabrik in Charkiw gegangen. Wirklich alle sagen: Das ist ein sehr talentierter Typ, der sich als Manager bewährt hat."
Wichtige Panzerschmiede
Smetanin hat seine gesamte berufliche Laufbahn im Dienst der ukrainischen Rüstungsindustrie verbracht. Nach der Universität heuerte er als junger Ingenieur im Charkiwer Konstruktionsbüro für Maschinenbau (ChKMB) an. Dann zog er für mehrere Jahre vom Osten in den tiefsten Westen der Ukraine, um in einer Fabrik für gepanzerte Fahrzeuge in Lwiw zu arbeiten, ehe es zurück nach Charkiw ging: Smetanin stieg als Produktionsingenieur im Malyschew-Werk ein. Im Alter von nur 28 Jahren übernahm er die Leitung der Panzerfabrik. Drei Jahre später steuert er als Chef von Ukroboronprom die gesamte ukrainische Rüstungsindustrie, die einst auch ein Herzstück der sowjetischen war.
So wurden im Malyschew-Werk seit den 1940er-Jahren unterschiedliche Versionen sowjetischer Kampfpanzer für die Rote Armee gebaut. Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges waren dort 60.000 Menschen beschäftigt. Nach dem Zerfall der Sowjetunion brach die Produktion ein, weil der Ukraine Bauteile aus Russland fehlten, erholte sich dann aber langsam. Die Panzer, die noch hergestellt wurden, gingen vor allem ins Ausland: Zu den Kunden gehörten neben Russland auch Pakistan und die Vereinigten Arabischen Emirate.
Mit dem russischen Einmarsch im Donbass und der Annexion der Krim änderte sich der Fokus: Exporte nach Russland sind seit 2014 verboten. Stattdessen modernisierten die verbliebenen 5000 Angestellten im Malyschew-Werk alte Panzer aus Sowjetzeiten für die ukrainische Armee und unterstützen sie mit neuen.
Fabriken nahe der Front
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Wie wichtig die Fabrik für das ukrainische Militär ist, weiß man auch in Moskau. Seit Russland im Februar 2022 seine Invasion der Ukraine begonnen hat, wurde das Malyschew-Werk Berichten zufolge im März 2022, im Dezember 2022 und im Februar 2023 mindestens dreimal von russischen Raketen getroffen. Das sei inzwischen Alltag für die Mitarbeiter, berichtet Denis Trubetskoy. Im vergangenen Jahr seien insgesamt rund 100 russische Raketen in ukrainischen Rüstungsbetrieben eingeschlagen, sagt der Journalist. Die Menschen, die dort arbeiten, hätten einen der gefährlichsten Jobs der Welt.
Verhindern lassen sich die Angriffe kaum. "Man kann nicht den gesamten ukrainischen Luftraum schützen", sagt Trubetskoy. Es sei vermutlich keine gute Idee, eine Rüstungsfabrik nur wenige Kilometer von der Front entfernt zu betreiben. "Aber natürlich wird in östlichen Städten wie Charkiw, Krywyj Rih und Saporischschja nach wie vor produziert. Nur in welchem Umfang, was und wie genau, weiß man natürlich nicht."
Ein Punkt, der dabei hilft, die Produktion der Rüstungsindustrie aufrechtzuerhalten, ist die Tatsache, dass viele Fabriken auf ukrainischem Gebiet im Kalten Krieg mit der Möglichkeit eines Atomschlags im Hinterkopf gebaut wurden. "Diese Fabriken haben oftmals wirklich unterirdische Städte", erinnert Trubetskoy an das Stahlwerk Asowstal in Mariupol, das erst nach wochenlanger Belagerung fiel. "Die Produktionsmöglichkeiten unter der Erde sind groß."
"Erbärmliche" Produktion
Um den Nachschub für die ukrainische Armee produzieren zu können, wurde ein Teil der ukrainischen Produktion auch ins sichere Ausland verlegt, zum Beispiel nach Polen und Tschechien. Doch ansonsten soll der bisherige Chef von Ukroboronprom, Jurij Hussjew, mit seiner Mission auf ganzer Linie gescheitert sein.
In der "Ekonomitschna Prawda" beschreibt ein Insider zum Beispiel die Situation bei gepanzerten Fahrzeugen als "erbärmlich". Demnach wäre es trotz der russischen Angriffe möglich, jeden Monat Dutzende Schützenpanzer innerhalb der Ukraine zu fertigen. Tatsächlich sei im gesamten Mai nur ein einziger hergestellt worden.
Ähnlich soll die Lage beim Kampfpanzer Oplot aussehen. "Sie haben einen hergestellt, damit eine Runde gedreht und eine Bestellung der ukrainischen Streitkräfte verkündet", beschreibt der Insider einen Pressetermin, bei dem der ukrainische Verteidigungsminister Oleksij Resnikow im Mai eine erste Testfahrt mit dem Oplot machen konnte. "Aber niemand weiß, ob und wann die Panzer tatsächlich hergestellt werden können."
Besonders schwer für die Verteidigung gegen Russland sollen allerdings die Probleme des ukrainischen Raketenprogramms wiegen. Demnach hatte der frühere Ukroboronprom-Chef Hussjew versprochen, dass die ukrainische Armee ab Mai in größerem Umfang die ballistische Kurzstreckenrakete Sapsan einsetzen könne. Die Ukraine hat die Rakete selbst entwickelt und mutmaßlich ganz vereinzelt bereits bei Luftschlägen gegen russische Militärbasen auf der Krim eingesetzt. Mit einer Reichweite von bis zu 500 Kilometern kann sie russische Infrastruktur tief im Territorium von Russland selbst treffen und russische Truppen an der Front somit vom Nachschub abschneiden.
Der Bahnchef übernimmt
Doch noch muss die russische Armee keine größeren ukrainischen Luftschläge fürchten: Die "Ekonomitschna Prawda" zitiert mehrere Quellen bei Ukroboronprom, wonach das Raketenprogramm erst bei 65 bis 70 Prozent steht, die Massenproduktion der Sapsan also noch kein Thema ist. Vor drei Monaten soll Selenskyj deshalb die Reißleine gezogen und mit Olexander Kamyschin einen neuen Minister für die strategische Industrie der Ukraine ernannt haben.

Oleksandr Kamyschin ist seit drei Monaten ukrainischer Minister für strategische Industrien.
(Foto: picture alliance/dpa)
"Dieser Minister ist auch für die Rüstungsindustrie verantwortlich und damit eine Art Aufsichtsratsvorsitzender von Ukroboronprom", erklärt Trubetskoy im Gespräch mit ntv.de. "Kamyschin ist in der Ukraine sehr bekannt, weil er vorher die ukrainische Bahn geleitet hat. Und die hat bei allen internen Problemen unterm Strich während des Krieges einen unfassbar guten Job geleistet. Das wird als Kamyschins Verdienst gesehen. Selenskyj vertraut ihm sehr."
Steigerungen von bis zu 1100 Prozent
Anscheinend zurecht, denn seit der Ernennung von Kamyschin zum Minister läuft es plötzlich bei der ukrainischen Waffenproduktion. Die "Ekonomitschna Prawda" berichtet unter Berufung auf ihre Quellen, dass Ukroboronprom die Produktion von Kampfpanzern und Schützenpanzern wieder aufgenommen habe. Zudem soll der Rüstungskonzern in den vergangenen drei Monaten jeweils mehr Munition hergestellt haben als im gesamten Jahr 2022: Nach einer Intervention von Kamyschin würden inzwischen Zehntausende Artilleriegeschosse und Mörsergranaten im Monat gefertigt, heißt es. Auch die Produktion der Panzerabwehrrakete Stugna konnte demnach verdreifacht werden.
Wie der frühere Bahnchef das geschafft hat, ist unklar. Branchenexperten glauben allerdings nicht, dass der frühere Chef von Ukroboronprom, Hussjew, korrupt oder unfähig war. Sie vermuten eher, dass Bürokratie, Kontrollen und Genehmigungen das Problem waren und Kamyschin auf dieser Ebene schnellere Prozesse eingeführt hat. Anders seien Produktionssteigerungen von bis zu 1100 Prozent von einem Monat auf den anderen eher nicht zu erklären, heißt es.
Der Westen kann nicht helfen
Auch Denis Trubetskoy glaubt nicht an eine einzelne Ursache für die plötzliche Produktionssteigerung. "Das kann man nicht auf eine Personalentscheidung reduzieren", sagt der Journalist. "Es ist ja klar, dass Abläufe und Mechanismen schneller und besser werden, je länger der Krieg dauert, auch wenn das schrecklich klingt. Aber man lernt im Kriegsalltag, was man machen kann und was nicht. Und natürlich muss man im Kopf behalten, dass die neuen Produktionskapazitäten in Tschechien und Polen nicht über Nacht aufgebaut wurden. Es dauert, bis sich das etabliert. Und wenn es dann einmal läuft, funktioniert das mit einer anderen Schnelligkeit."
Warum vor allem die Munitionsproduktion von einem Monat auf den anderen gesteigert werden konnte, ist für die Ukraine egal. Wichtig ist, dass sie läuft. Denn auch wenn die ukrainischen Streitkräfte inzwischen über viele Waffensysteme aus dem Westen verfügen, sind nach wie vor auch sehr viele aus der Sowjetzeit im Einsatz. Dafür können amerikanische, britische, deutsche oder französische Unternehmen keine Ersatzteile und keine Munition herstellen. Das müssen Herman Smetanin und Ukroboronprom ab sofort selbst übernehmen.
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Quelle: ntv.de