"Das war ziemlich armselig" Chile wickelt den Neoliberalismus ab
16.05.2021, 16:06 Uhr
Lange Schlangen bei der Wahl zur verfassungsgebenden Versammlung in der Hauptstadt Santiago de Chile.
(Foto: AP)
Chile hat sich mit seinem neoliberalen Wirtschaftsmodell den Ruf des "Musterlands" erarbeitet - und dann mit der Arroganz der Reichen selbst betrogen, sagt Wirtschaftswissenschaftler Óscar Landerretche. Nun wird die Verfassung aus Zeiten der Militärdiktatur Pinochet abgewickelt. Monatelange Straßenschlachten hatten die Regierung 2019 dazu gezwungen. An diesem Wochenende wählen die Chilenen eine verfassungsgebende Versammlung. Die neue Verfassung ist unverzichtbar für Entwicklung, sagt Landerretche. Und zugleich eine teure Wette.
ntv.de: Herr Landerretche Moreno, die neue Verfassung wird vor allem wegen sozialer Verwerfungen und monatelangen Auseinandersetzungen auf der Straße ausgearbeitet. Hat Chiles Wirtschaftsmodell versagt?
Óscar Landerretche Moreno: Die Antwort lautet weder Ja noch Nein. Chile gehörte in Lateinamerika zu den ärmeren Ländern, mit mehr als 50 Prozent armer Bevölkerung. Heute ist es das reichste. Es ist zudem das einzige Land, das es geschafft hat, die Einkommensverteilung trotz interner politischer Verwerfungen immer weiter zu verbessern. Heute bewegt sich der Gleichheits-Index Gini im Bereich der Vereinigten Staaten, trotz aller Mängel und Probleme des Wirtschaftsmodells. Die anderen lateinamerikanischen Länder weisen ein höheres Maß an Ungleichheit auf.
Warum dann dieser Hunger auf Veränderung bei der breiten Bevölkerung?

Ohne neue Verfassung können sich die Lebensbedingungen in Chile verbessern - davon ist Óscar Landerretche überzeugt.
(Foto: privat)
Seit mindestens zehn Jahren, wenn nicht schon fünfzehn, ist eine leicht gegenläufige Entwicklung zu beobachten. Das Pro-Kopf-Wachstum nimmt ab. Die Ungleichheitswerte stagnieren, die Reallöhne, die Exporte. Die Produktivität nimmt sogar leicht ab. Sie können Indikator für Indikator durchgehen. Das Wirtschaftsmodell hat eine enorme Leistung erbracht, aber es funktioniert nicht mehr. Die Behauptung, es habe Hunger erzeugt, ist nicht wahr, das sehen Sie an den Zahlen.
Wissen Sie, wo das Problem liegt? Schließlich galt Chile lange als "Musterland".
Wirtschaftswissenschaftler Óscar Landerretche Moreno ist Mitglied der sozialdemokratischen Partido Socialista. Im Jahr 2009/2010 war er der führende Wirtschaftsberater im Team von Präsidentschaftskandidat Eduardo Frei, der dem Unternehmer Sebastián Piñera unterlag. Landerretche leitete von 2014 bis 2018 das staatliche Bergbauunternehmen Codelco. Er hat das Buch "Hacia un nuevo pacto" ("Zu einer neuen Übereinkunft") veröffentlicht, in dem er über die Notwendigkeiten, Chancen und Risiken der neuen chilenischen Verfassung schreibt.
Wer ein wenig über Entwicklungsökonomie weiß, der weiß auch, dass Entwicklungsprozesse in Ländern immer langsamer werden. Etwas, das sich als gut herausgestellt hat, Leistung generiert, erbringt im Laufe der Zeit immer weniger. Sie müssen etwas Neues tun, neue Sektoren entwickeln, neue Technologie einführen, die Belegschaft ausbilden. Wie genau, das hängt vom Land und dem Zeitpunkt ab. Tun Sie das nicht, wird der Entwicklungsprozess unweigerlich stocken oder sich umkehren. Betrachten Sie andere lateinamerikanische Länder, Argentinien, Brasilien, Mexiko. Sie waren kurz davor, einen Sprung zu machen und sind gescheitert. Das chilenische Modell hat funktioniert, aber tut es jetzt nicht mehr. Deshalb muss es geändert werden.
Weshalb wurde so lange gewartet?
Ich bin nicht der einzige Wirtschaftswissenschaftler, der schon lange einen Kurswechsel fordert. Es war sehr klar, was los ist. In den zwölf Monaten vor dem Ausbruch der Unruhen hatte Präsident Sebastián Piñera, dessen Regierung das Wirtschaftswachstum als Hauptziel ausgegeben hatte, ein Pro-Kopf-Wachstum von 0,5 Prozent erreicht. Das war ziemlich armselig. Diesen Trend gab es in den Regierungen von Michelle Bachelet und Piñera. Wir haben uns selbst betrogen, etwa mit Hochpreisphasen des Kupfers. Nach dem verheerenden Erdbeben 2010 gab es logischerweise einen Bauboom. Diese Ereignisse waren wie Doping, eine Droge, die wir uns selbst injizierten, um das Gefühl zu haben, dass wir wachsen und mehr Leistung erbringen. Aber es waren künstliche Hochs, und danach setzte sich der Trend fort. Solche, die das Modell am Ende sahen und vor 10 oder 15 Jahren schon angefangen hätten, wurden von der chilenische Elite als radikal, verrückt, negativ, oder sonst was gebrandmarkt. Die Krise ist das Ergebnis dieser völlig arroganten, konservativen Schicht, die in ihre bisherigen Erfolge verliebt ist.
Chile lebt unter anderem vom Kupferexport. Wohin sollte es in Zukunft gehen?
Die chilenische Wirtschaft muss neue Industrien gründen. Wenn ich mir die Produktionsstruktur Chiles und die Exporte seit den 1960ern angucke, sieht die fast immer gleich aus. Es ist Kupfer, plötzlich Früchte, weil sie mal rentabel sind, dann Holzexport. Die Produktionsstruktur ist prozentual genau gleich wie vor 30 Jahren. Vor 50 Jahre war es nicht viel anders. Wenn Sie sich nun die produktive Struktur Koreas oder Deutschlands ansehen, ist sie im Vergleich nicht wiederzuerkennen. Südkorea etwa hat vor 50 Jahren Textilien und Bekleidung produziert. Und jetzt? Nichts davon. In Deutschland ist es ähnlich. Australien war ein Agrarland, heute ist eine wegweisende Industriemacht; Neuseeland ein Exporteur von Fleisch und Wolle, heute stark im Tourismus und entwickelt Agrar- und Lebensmitteltechnik. Die erfolgreichen Länder zeigen, dass der einzige Weg ist, um zu bestehen, sich zu ändern. Wir brauchen Anreize für Veränderungen, denn nur so können wir das Wirtschaftswachstum wiederherstellen, und unser Leben weiter verbessern.
Und warum ist dafür eine neue Verfassung nötig?
Die bisherige chilenische Verfassung stammt aus der Zeit der Militärdiktatur von Augusto Pinochet, der von 1973 bis 1990 Staatschef war. In dieser Zeit wurden weite Teile des Landes privatisiert. Die Verfassung grenzt die Staatsverantwortung stark ein und überlässt vieles dem Privatsektor. Sogar das Wasser ist privatisiert. Das Rentensystem wird über wenige private Fonds finanziert. Das öffentliche Gesundheitssystem und Bildungsangebote sind mangelhaft. Private Alternativen sind häufig nur über Schuldenaufnahme finanzierbar. Das zentralistische politische System gilt als schwerfällig.
Bei der Wahl zur verfassungsgebenden Versammlung haben Regierungsmitglieder kein passives Wahlrecht. Die 155 gewählten Vertreter sollen innerhalb eines Jahres eine neue Verfassung erarbeiten, die dann zur Volksabstimmung gestellt wird.
Weil das chilenische politische System nun Probleme lösen muss. Mit der derzeitigen Verfassung ist das fast unmöglich. Das Arbeitsgesetze sind völlig veraltet und müssen vollständig reformiert werden. Die Wasserfrage muss geklärt sein, die akademische Bildung verbessert werden. Wir brauchen ein System, das dem deutschen viel ähnlicher ist, bei dem die technische Fachausbildung der Menschen Vorrang hat. Da hat Chile ein gigantisches Defizit. Es gibt viele Dinge, die gelöst werden müssen, und damit dies geschehen kann, müssen Regierungen in der Lage sein, Dinge zu verändern. Das derzeitige System des angeblich starken Präsidenten ist eine Mogelpackung. Das Parlament kann praktisch alles blockieren.
Was wäre eine gute Alternative?
Das französische System, wo der Präsident den Premierminister, dessen Kabinett und den Haushalt vom Parlament bestätigen lassen muss. Chile hat eine relativ kleine Bevölkerung, aber ein sehr weitläufiges Territorium. Das ist, als würden Sie von London nach Sibirien fahren. Früher waren diese weit entfernten Regionen fast Kolonien. Aber heute sind sie entwickelt, Städte mit Universitäten, mit eigenen Künstlern, Unternehmen und politischen Besonderheiten. Chile muss föderaler werden, weil die Entwicklungsstrategie von jeder Region festgelegt werden muss. Im Süden ähnelt das Land eher Norwegen, da wird Lachs produziert, es gibt Bäume und Fjorde, im Norden gibt es das Kupfer, die Atacama-Wüste, da sieht es aus wie in Algerien oder in der Türkei. Für mich ist die neue Verfassung der Schlüssel für eine solche Entwicklungsstrategie.
Mit der Verfassung werden viele Hoffnungen verbunden. Heutzutage haben Familien im Alltag mit ausufernden Kosten zu kämpfen, unzureichenden Renten, Schulden für Bildung und Gesundheitsversorgung. Wie kann eine neue Verfassung all dies erfüllen?
Ein Teil der Entwicklungsstrategie muss sein, die chilenischen Staatsleistungen auszubauen. Dazu braucht es eine stärker entwickelte und größere Wirtschaft. Auf deren Entwicklung kann die Bevölkerung aber nicht warten. Chile muss deshalb eine Wette eingehen, da gibt es keine Alternative. Wahrscheinlich wird sie über ein Haushaltsdefizit und Schulden finanziert. Das Land muss dafür die internationalen Märkte von Ihrer Wette überzeugen und mehr Staatseinnahmen generieren.
Was ist der Schlüssel dafür, dass Chile diese Wette gewinnt?
Es müssen Investitionen in die Infrastruktur sein. Es ist wie ein Wertversprechen, das jedes Unternehmen macht: Ich investiere, um ein zukünftiges Ergebnis zu erzielen. Im Moment habe ich ein Defizit, aber in Zukunft werden wir ein wohlhabenderes und besser funktionierendes Land haben. Diese Wette ist die einzige Möglichkeit, die Chile noch hat.
An welchem Punkt sehen Sie Chile momentan?

Im November wird der neue Präsident gewählt - Sebastian Piñera darf nicht wieder antreten, so gibt es die noch gültige Verfassung vor.
(Foto: imago images/Aton Chile)
Während die Verfassung entwickelt wird - ich gehe von einem mehrjährigen Prozess aus - muss eine neu gewählte Regierung schon die neue Wirtschaftspolitik anstoßen. Es ist ein bisschen so wie im Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Es gibt einen konstituierenden Prozess, der in Deutschland von den Alliierten auferlegt wurde, um etwas aufzuräumen von Jahren der Diktatur. Mit einer Mehrheit, die ein totalitäres Regime unterstützte, musste nun eine glaubwürdige demokratische Kultur geschaffen werden, mit denselben Menschen. Natürlich ist das, was in Chile passiert, weniger dramatisch als im Europa der Nachkriegszeit, aber zwei Faktoren sind ähnlich: Sie müssen einen Prozess des politischen Wandels und einen Prozess der wirtschaftlichen Entwicklung generieren, der sich der Zukunft verpflichtet fühlt. Das ergänzt sich. Wenn der Prozess der wirtschaftlichen Entwicklung scheitert, wird der politische Prozess scheitern, so schön die Verfassung auch sein mag. Wir haben es umgekehrt erlebt: Wir hatten wirtschaftliche Entwicklung, aber ohne politische Legitimität. Beides muss zusammenpassen. Es ist eine Art Marshall-Plan.
Was sind die Gefahren für Wirtschaft und den Staat? Zum Beispiel wenn sich gesellschaftliche Gruppen vom Prozess abwenden, weil sie sich von den neuen Spielregeln schlecht behandelt fühlen. Denken Sie etwa an Unternehmen, die den Staat verklagen und den Entwicklungsprozess untergraben, weil das Wasser plötzlich als öffentliches Gut gilt.
Das ist in der Tat eine Gefahr. Es geht nur über Dialog. Wir sollten dem Weg Koreas, Australiens, Neuseeland oder Irlands folgen, nicht dem brasilianischen und argentinischen Kurs. Die Arbeiter, der Staat, die Geschäftsleute, die Bürgervertreter müssen sich an einen Tisch setzen, da sie alle betroffen sind. Sie treffen Vereinbarungen, zu denen alle beitragen und dafür etwas bekommen. Der Staat garantiert den Prozess und geht strategisch vor. Darin wird sich zeigen, ob Chile ein weiterer Fall eines stagnierenden Entwicklungslandes in Lateinamerika wird, oder es in der Lage ist, einen anderen Weg zu gehen. Wir werden sehen, was passiert.
Mit Óscar Landerretche Moreno sprach Roland Peters, Buenos Aires
Quelle: ntv.de