
Am Samstag brannte ein Treibstofftank auf der Krim. Foto aus dem Telegram-Kanal des Besatzungsgouverneurs von Sewastopol, Michail Raswoschajew.
(Foto: via REUTERS)
Nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim 2014 ging das Alltagsleben auf der Halbinsel vergleichsweise unverändert weiter. Doch seit Beginn der großen Invasion haben die Repressionen zugenommen, und auch die militärischen Angriffe lassen sich nicht länger ignorieren.
"Es ist eine komische Realität. Sirenen des Luftalarms gibt es auch dann nicht, wenn die Flugabwehr ganz offensichtlich Drohnen bekämpft und zumindest die Trümmer überall fallen könnten", sagt Andrej, ein Kleinunternehmer aus Simferopol auf der Krim, der eigentlich anders heißt. "Und dann erlebt man Szenen, wie zum Beispiel, dass zwei Männer auf einer Bank sitzen, sich den Kampf gegen die Drohnen in der Luft anschauen und auf die Flugabwehr trinken. So etwas fasst das aktuelle Leben auf der Krim eigentlich recht gut zusammen."
Erst am vergangenen Montag war es in Sewastopol, dem Stützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte, wieder unruhig. Im Netz kursierten Aufnahmen, die die Explosion einer wahrscheinlich ukrainischen Marinedrohne zeigten. Das russische Verteidigungsministerium erklärte zwar erwartungsgemäß, der Angriff sei erfolgreich abgewehrt worden. Ob das aber tatsächlich der Fall war, bleibt offen. Jedenfalls ist es eine neue Realität, die seit dem 24. Februar 2022 auf der im März 2014 völkerrechtswidrig annektierten Krim herrscht. Dabei geht es nicht nur um Vorfälle wie die Explosion auf einem Militärflugplatz bei Saky im August, die Sprengung der Krim-Brücke im Oktober oder den brennenden Treibstofftank in Sewastopol am vergangenen Samstag. Weil über die Halbinsel die russische Kriegslogistik in der Südukraine läuft, passieren kleinere Angriffe wie der am Montag so gut wie wöchentlich.
"Alle wissen, dass es nicht mehr unmöglich ist"
Zwischen März 2014 und Februar 2022 sah das Alltagsleben auf der Krim vergleichsweise normal aus. Die Annexion brachte für die Halbinsel zwar durchaus Veränderungen: Westliche Firmen verließen die Krim aufgrund der Sanktionen, es gab Schwierigkeiten mit der Wasser- und der Stromversorgung, die früher über das ukrainische Festland lief, und es mussten völlig neue Logistikketten über Russland aufgebaut werden. Hinzu kamen starke Repressionen gegen politisch aktive Krimtataren und Ukrainer, wenn klar war, dass die mit der russischen Annexion kaum etwas anfangen konnten. Für den durchschnittlichen Krim-Bewohner veränderten sich jedoch höchstens Kleinigkeiten. Die Geschäfte waren voll und nur wenige machten sich Gedanken darüber, ob der Status quo auf der Halbinsel sich noch einmal ändern könnte. Das war in Kiew ähnlich: Mit Diskussionsformaten wie der sogenannten Krim-Plattform wollte man zwar unterstreichen, dass das Problem der Krim zu den Prioritäten der ukrainischen Regierung gehört. Eine Rückeroberung der Halbinsel war aber kein ernsthaftes Thema.
Der 24. Februar 2022 hat auch das verändert. "Mir fällt nur eine Sache auf, die sich seitdem etwas zum Positiven gedreht hat: Weil Sanktionen nun gegen Russland insgesamt statt nur gegen russische Aktivitäten auf der Krim verhängt wurden, sind etwa große russische Banken endlich hier eingestiegen. Vorher haben sie das natürlich vermieden", sagt Andrej mit traurigerer Ironie im Ton. "Viele haben gedacht, dass die Krim der Russischen Föderation beigetreten ist. Jetzt ist gewissermaßen die Russische Föderation der Krim beigetreten." Mittlerweile sind theoretisch sogar aktive Kampfhandlungen auf der Halbinsel denkbar. "Es ist der Elefant im Raum. Alle wissen, dass es zumindest nicht mehr unmöglich ist. Doch selbst meine Eltern im Norden der Krim, wo die Gefahr am größten ist, leugnen die Notwendigkeit, so schnell wie möglich wegzufahren, sobald etwas losgeht", sagt Andrej.
Die Mobilmachung hat die Stimmung verändert
"Die Stimmung lässt sich am besten als tiefe Depression beschreiben. Die Menschen versuchen, im Hier und Jetzt weiterzuleben, weswegen der Eindruck einer Normalität entstehen könnte. Doch dieses Unwissen über das, was folgen könnte, ist in der Luft", betont auch Dmitrij, ein junger Mann aus Sewastopol, der aus Sicherheitsgründen ebenfalls nicht mit seinem richtigen Namen zitiert werden möchte. "Bei aktiven Unterstützern Russlands gab es zwar am Anfang eine patriotische Welle. Nachdem im September die Mobilmachung verkündet wurde, ist das weg. Die Einheimischen verstehen, dass es eng werden könnte. Für sie ist es aber meist gar nicht die große Frage, ob sie in Russland oder in der Ukraine leben werden. Sie würden auch auf einer türkischen Krim leben, wenn ihre Familien sicher und in Ordnung sind."
Dieser Darstellung stimmt Andrej grundsätzlich zu. "Eine Rückeroberung durch die Ukraine wäre für 200.000 bis 300.000 Russen ein großes Problem, die nach 2014 auf die Krim gezogen sind. Sie müssten sofort auf das russische Festland abhauen, genauso wie ein paar Zehntausend Menschen, die wegen ihrer Tätigkeit als Beamte oder Ähnlichem als Kollaborateure angesehen werden könnten", meint er. "Für alle anderen wird das Leben mehr oder weniger genauso weitergehen wie zuvor." Offen ist dabei vor allem, wie eine militärische Operation der Ukraine auf der Krim aussehen würde und welche Folgen sie für die Bewohner hätte. Nach der jüngsten Verschärfung der Einberufungsregeln in Russland dürfte es in einem solchen Fall beispielsweise eine schnelle Massenmobilmachung der Männer auf der Krim geben.
Die Krim könnte ein Weg zu Verhandlungen sein
Trotz aller politischen Rhetorik in der Ukraine gilt eine Bodenoperation auf der Halbinsel als wenig wahrscheinlich. Sie würde vermutlich sehr blutig ausfallen, außerdem wären die Kämpfe in den Bergen im Süden der Krim ein extrem schwieriges Unterfangen. Allerdings ist die Krim für die Ukraine schon aus Sicherheitsgründen ein wichtiges Gebiet: Russland hat die Halbinsel seit 2014 stark militarisiert, es diente als Aufmarschgebiet für die Invasion in die Südukraine. Denkbar ist daher, dass die ukrainische Armee nach einer erfolgreichen Gegenoffensive im Süden eine Krim-Blockade verhängt und gleichzeitig immer wieder die Krim-Brücke angreift, die über die Straße von Kertsch in die russische Region Krasnodar führt. In einem solchen Szenario wäre die russische Logistik extrem erschwert und es wäre eine Möglichkeit, die Führung in Moskau zu ernsthaften Verhandlungen über ein Ende des Krieges zu zwingen.
Doch all das ist Zukunftsmusik. Bei der kommenden Gegenoffensive der ukrainischen Armee wird es vorerst sicher nicht um die Krim gehen. Derweil ist das Ausmaß der Repressionen dort nach wie vor höher als in Russland selbst. "Das passiert jetzt natürlich etwas außerhalb der internationalen Öffentlichkeit, weil alle unmittelbar mit dem Krieg beschäftigt sind. Außerdem hat man sich daran gewöhnt, dass die Lage auf der Krim schlecht ist", sagt Oleksandra Jefymenko, eine in Kiew lebende und aus Sewastopol stammende Journalistin, die sich vor allem mit Menschenrechtsfragen auf der Halbinsel befasst. "Aber es ist kein Zufall, dass auf der Krim nun eine zweite Untersuchungshaftanstalt eröffnet wurde."
Jefymenko betont, dass es zwei große Unterschiede zu der Zeit vor dem 24. Februar gibt. Zum einen werde auf rechtliche Formalitäten oft überhaupt nicht mehr geschaut. So wird unabhängigen Rechtsanwälten, die sich mit Fällen der politisch verfolgten Krimtataren beschäftigen, immer häufiger die Zulassung entzogen. Zum anderen dominieren panische Reaktionen auf mögliche ukrainische Sabotageakte. Nachdem ein militärisch stark genutzter Eisenbahnknotenpunkt beschädigt worden war, seien zum Beispiel willkürlich rund 40 Menschen festgenommen. "Sie werden dann in einen Keller gebracht, oft gefoltert, aber die Menschen, die es gemacht haben, die werden nicht gefunden", erzählt die Journalistin. Sie glaubt, solche Vorfälle werden immer häufiger zu sehen sein, je enger es um die Krim wird.
Quelle: ntv.de