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Noch ist der Boden zu nass Wie die Ukraine ihre Gegenoffensive vorbereitet

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Ukrainische Stellung bei Bachmut. Derzeit wird die Gegenoffensive vorbereitet. Es dürfte dabei eine Hauptoffensive und mehrere Ablenkungsmanöver geben.

Ukrainische Stellung bei Bachmut. Derzeit wird die Gegenoffensive vorbereitet. Es dürfte dabei eine Hauptoffensive und mehrere Ablenkungsmanöver geben.

(Foto: AP)

Die ukrainische Gegenoffensive werde "kein letzter, alles entscheidender Gegenangriff", dämpft ein Militärexperte die Erwartungen. Wem das derzeit nasse Wetter mehr hilft, ist nicht ganz klar, aber ein Vorteil könnte es mit Blick auf eine erneute Invasion der Russen aus Belarus sein.

Zwar befindet sich die russische Armee an einigen Stellen der Front in der Ostukraine, etwa in Bachmut oder Awdijiwka, immer noch in der Offensive. Doch obwohl auch renommierte internationale Experten vor zwei Monaten ihre Zweifel daran äußerten, ob die weitere Verteidigung von Bachmut im Bezirk Donezk noch Sinn macht, ist die Stadt auch nach jetzigem Stand noch nicht komplett gefallen.

Der größte Erfolg der russischen Winteroffensive bleibt daher die Einnahme der Stadt Soledar, die vor dem Krieg etwas mehr als 10.000 Einwohner hatte. Und noch hat die ukrainische Gegenoffensive nicht begonnen - sie wird derzeit akribisch vorbereitet, auch in Deutschland werden Truppen dafür ausgebildet.

Heißt das aber, dass man die russische Offensive bereits als gescheitert ansehen darf? Prominente ukrainische Militärexperten beantworten diese Frage im Gespräch mit ntv.de mit einem vorsichtigen Ja. "Wenn wir uns die russischen Anstrengungen, die Verlegung der Truppen, die Angriffsversuche im Detail anschauen, ist es klar, dass Moskau es vorhatte, bis zum aktuellen Zeitpunkt möglicherweise sogar die gesamten Bezirke Donezk und Luhansk zu besetzen", sagt Oleksij Melnyk, Oberstleutnant a.D. und Co-Direktor der Programme der internationalen Sicherheit in der Kiewer Denkfabrik Zentr Rasumkowa. "Offensichtlich ist das überhaupt nicht gelungen. Und was konkret die Verteidigung von Bachmut anbetrifft, hat sich die ukrainische Taktik gelohnt. Ja, die Ukrainer ziehen sich in der Stadt immer wieder zurück, doch wir sprechen von Hunderten von Metern am Tag und eine Einkesselung droht dort nicht mehr. Wenn wir uns die russischen Verluste dort anschauen, hat sich das Kosten-Nutzen-Verhältnis gelohnt." Stand jetzt, denn die Lage bleibe sehr dynamisch, unterstreicht der Experte.

"Man hätte die Russen sowieso stoppen müssen"

Oleksandr Mussijenko, Direktor des Zentrums für militärrechtliche Studien in Kiew, sagt, er könne die Skepsis verstehen, die es mit Blick auf die Verteidigung von Bachmut gegeben habe. "Der russische Plan war natürlich, die Stadt zu einer Falle für ukrainische Truppen zu machen, damit die Ukraine in Bachmut schlicht zu viele Reserven verbraucht." Die Ukraine habe dort tatsächlich auch Reserven einsetzen müssen. "Am Ende schaffte es die Ukraine aber einerseits, diese nur sehr begrenzt zu benutzen. Es ist ja bekannt, dass die Truppen für die Gegenoffensive in dieser Zeit im Ausland, aber auch im Inland vorbereitet wurden." Andererseits seien viele russische Kräfte vernichtet worden. "Außerdem hätte man die Russen sowieso irgendwo stoppen müssen, ob in Bachmut oder an anderen Orten", meint Mussijenko.

Doch wie sieht es mit der kommenden Offensive der Ukraine aus? "Vor allem ist es wichtig zu betonen: Es wird kein letzter, alles entscheidender Gegenangriff sein", warnt der ehemalige Kampfpilot Melnyk. "Was ich mir vorstellen kann, ist ein Durchbruch maximal rund 30 Kilometer in die Tiefe. Am allerwichtigsten ist ja, dass dort, wo dieser erfolgt, die Flanken ausreichend gesichert sind." Ein wichtiger Faktor sei das Wetter. In diesem Jahr erlebt die Ukraine ein ungewöhnlich nasses Frühjahr. In den vorigen Jahren war der Boden Mitte April bereits trocken. Diesmal ist das bei weitem nicht der Fall.

Die Ukraine muss auf trockenen Boden warten

"Das Wetter ist etwas, was man nicht beeinflussen, aber prognostizieren kann. Ende des Monats wird es so weit sein und die Bedingungen für eine Offensive werden vorhanden sein", betont Melnyk. Es sei nicht eindeutig festzustellen, ob die Zeit für eine oder für die andere Seite spiele. "Für die Ukraine bietet jeder Tag die Chance, Truppen besser vorzubereiten und mehr Munition zu erhalten. Die Russen können die Zeit aber auch nutzen, um bessere Verteidigungsstellungen vorzubereiten."

Mussijenko sieht dagegen einen zusätzlichen möglichen Vorteil für die Ukraine, was die aktuellen Wetterverhältnisse angeht: "Zahlreiche Regenschauer verkleinern das Risiko jeglicher Provokationen aus Belarus, weil die Gegend in der Nordukraine, wo es viele Flüsse und Sümpfe gibt, selbst für Menschen und nicht nur für Technik unpassierbar wird. Die Ukraine könnte daher theoretisch einige Truppen von der Grenze abziehen."

Im Kern muss Kiew jedoch definitiv auf das Trocknen des Bodens warten, weil etwa Leopard-Panzer schwerer sind als sowjetische Kampfpanzer, die die Ukraine bislang vorwiegend genutzt hat. Bei Betrachtung der konkreten Szenarien des Gegenangriffs sind sich Melnyk und Mussijenko einig, dass es vermutlich eine Hauptoffensive und mehrere Ablenkungsmanöver geben wird. Und während es klar ist, dass die Bewegung in Richtung Melitopol im Süden, um die russische Landbrücke zur besetzten Krim zu brechen, die Priorität für Kiew bleibt, ist es extrem schwierig vorauszusagen, wo genau die Offensivaktionen wirklich stattfinden werden.

Im Süden wird "früher oder später definitiv angegriffen"

"Die ukrainische Führung hat sicherlich sowohl Plan A als auch Plan B und C vorbereitet", ordnet Melnyk ein. "Sie liegen alle auf dem Tisch. Und es ist davon auszugehen, dass die Ukrainer nicht genauso agieren werden wie bei Offensiven im vergangenen Jahr." Es sei eine Art Schachspiel. "Die Russen bereiten sich natürlich im Süden vor, weil dort früher oder später definitiv angegriffen wird. Daher kann es sein, dass sowohl der Hauptschlag als auch die Nebenschläge der Ukrainer ganz woanders stattfinden. Aber die Russen gehen vermutlich gerade deswegen davon aus, dass zumindest die ersten Versuche gar nicht im Süden stattfinden. Und deswegen könnten die Ukrainer eben gleich in Richtung Melitopol vorstoßen. Es geht auch darum, plötzliche Schwachstellen an der Frontlinie zu finden."

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Die jüngsten Leaks aus den USA sehen beide Experten überwiegend gelassen. Ob die Dokumente nun echt seien oder teilweise bearbeitet wurden, klar sei: "Einschätzungen, die mehr als einen Monat alt sind, können in der Kriegsdynamik kaum als aktuell bezeichnet werden", meint Mussijenko. "Ansonsten habe ich nichts gesehen, was eine große Offenbarung wäre. Dass die Ukrainer mehr Flugabwehr, mehr Artillerie, mehr Panzer brauchen, das ist alles allgemein bekannt."

Was dagegen aber auch mit Bezug auf die Gegenoffensive Sorgen bereitet, ist die verstärkte Nutzung von gelenkten Fliegerbomben durch die Russen in der Nähe der Front, zumal die Ukraine trotz der Lieferung von MiG-29-Kampfflugzeugen etwa aus Polen in der Luft deutlich unterlegen bleibt. Diese Bomben können zwar kaum weiter als 50 Kilometer fliegen, tragen aber zum Teil mehr Sprengstoff als ein Marschflugkörper und können von den derzeit von der Ukraine benutzten Flugabwehrsystemen nicht abgefangen werden. "Mit diesen Bomben wird von Orten geschossen, die für russische Flugzeuge sicher sind. Sie sind nicht supergenau, der Sprengstoff reicht aber, um Objekte im Radius von 50 bis 100 Metern zu zerstören", sagt Melnyk. "Die Lösung sind hier entweder Flugabwehrsysteme mit größerer Reichweite, vor allem US-amerikanische, oder westliche Flugzeuge, vor allem F-16." Tatsächlich wurde am Mittwoch bekannt, dass drei Patriot-Flugabwehrsysteme in der Ukraine eingetroffen sind, je eines aus Deutschland, den USA und den Niederlanden.

Quelle: ntv.de

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