Shikma Bressler im Interview "Die Demonstranten sind die wahren Verteidiger Israels"
05.08.2023, 09:24 Uhr Artikel anhören
"Wir haben gerade erst angefangen": Demonstration in Tel Aviv am 29. Juli.
(Foto: picture alliance / AA)
Seit über einem halben Jahr demonstrieren zahlreiche Menschen in Israel gegen die geplante Justizreform der nationalreligiösen Regierung um Premierminister Benjamin Netanjahu. Die Physikerin Shikma Schwartzman-Bressler ist eines der bekanntesten Gesichter der Proteste. Im Interview mit ntv.de spricht sie darüber, warum Netanjahus Pläne so gefährlich sind.
ntv.de: Israel ist die einzige Demokratie im Nahen Osten und wurde als Zufluchtsort für das jüdische Volk nach dem Holocaust gegründet. Wird es jetzt eine illiberale Demokratie?
Shikma Schwartzman-Bressler: Wenn wir über den Begriff "illiberale Demokratie" im Orban-Stil reden, dann könnte Israel eine werden. Wir befinden uns im selben Prozess, der in Ungarn stattgefunden hat. Doch Orban war nicht der Erste, der so etwas gemacht hat. Das ist ein bedauerlicher, bekannter Trend in der liberalen Welt.

Shikma Schwartzman-Bressler ist Wissenschaftlerin am renommierten Weizmann-Institut. Im Juli initiierte sie einen Demonstrationszug von Tel Aviv nach Jerusalem, um gegen die Justizreform zu protestieren.
(Foto: REUTERS)
In Israel dominiert die Exekutive praktisch auch die Legislative. Wenn die nationalreligiöse Regierung bald auch die Justiz kontrolliert, könnte Israel dann eine theokratische Diktatur werden?
Das ist es, was sie wollen. Unser Justizminister hat es am 4. Juli deutlich zum Ausdruck gebracht. Seitdem wurden rund 200 verschiedene Gesetze verabschiedet, die in diese Richtung gehen. Wir versuchen, das zu verhindern, aber sie sind dazu bereit und versuchen, alles Gute in diesem Land zu opfern, um ihr Ziel zu erreichen.
Ein Israel im Stile Irans?
Wenn sie alles erreichen, was sie wollen, dann könnte es womöglich so kommen.
Was will Netanjahu?
Er will absolute Macht und einen Weg, um aus seinem eigenen Gerichtsprozess herauszukommen. [Netanjahu ist wegen Betrugs, Untreue und Bestechlichkeit angeklagt, Anm.d.Red.]
Gehören nicht Herrschaftsbilder nach dem Motto "der Staat bin ich" - wie unter dem französischen König Ludwig XIV. Ende des 17. Jahrhunderts - längst der Vergangenheit an?
Das schon, aber zahlreiche Literatur, die auf Erfahrungen verschiedener Länder basieren, zeigt uns, dass Tyrannei im 21. Jahrhundert auf dem Vormarsch ist. Der Prozess ist ein anderer als in der Vergangenheit. Die Tage von König Ludwig XIV. mögen vorbei sein, aber eine neue Generation von Nachahmern ist dabei, immer stärker zu werden.
Was kann sie aufhalten? Vielleicht politischer Druck aus dem Ausland?
Die USA, die EU und andere werden allein nicht ausreichen. Insbesondere dann nicht, wenn die Ideologie einen starken Bezug zur Religion hat. Aber alle zusammen können sie wahrscheinlich aufhalten. Seit unser Protest anfing, konnten wir ihr Vorhaben wenigstens verzögern. Wir müssen also weitermachen, und auch die internationale Gemeinschaft muss sich mit solchen Revolutionen auseinandersetzen.
Muss die Weltgemeinschaft Israel erklären, dass es so nicht weitergeht?
Wir müssen dazu kommen, dass die Regierungen im Ausland verstehen, dass eine Unterstützung des jüdischen Staates in diesen Tagen eine Unterstützung der Protestbewegung bedeutet, nicht eine Unterstützung der Regierung. Tatsächlich zeigt Israel gerade sein schönstes Gesicht. Zu den Demonstrationen kommen Hunderttausende von Menschen. Wir hatten bis jetzt mehr als zwei Millionen Bürger, die protestierten, das heißt, rund 20 Prozent der Bevölkerung beteiligten sich aktiv daran. Ich spreche nicht davon, dass die Weltgemeinschaft Israel im Stich lassen sollte. Aber in diesen Tagen geht es um eine Unterstützung der Demonstranten auf der Straße. Denn sie sind die wahren Verteidiger dieses Landes.
Der Protest in Israel hat ein noch nie dagewesenes Ausmaß erreicht. Hat die Regierung die Proteste unterschätzt?
Im Grunde schon, weil das demokratisch-liberale Lager, das jetzt aufgebaut wird und offenbar die große Mehrheit der Israelis umfasst, lange Zeit geschwiegen hat. Wir saßen tatsächlich zu Hause und haben nicht verstanden, wie groß die Gruppe ist, zu der wir gehören. Ich denke, das lag auch an der massiven Aktivität von Netanjahu, sowohl in den sozialen als auch in den Massenmedien. Aber nicht nur die Regierung, auch wir selbst haben die Proteste unterschätzt. Doch jetzt ist diese Bewegung erwacht, die entschlossen sein muss, die Regierung daran zu hindern, was sie bereit ist zu tun.
Wie setzt sich der Protest zusammen?
Alle möglichen politischen Strömungen der israelischen Gesellschaft - abgesehen von den Extremisten - sind bei den Demonstrationen vertreten. Selbst Menschen, die, aus welchen Gründen auch immer, die rechten und nationalreligiösen Parteien gewählt haben, unterstützen diese radikale Reform nicht. Selbst einige Ultraorthodoxe beteiligen sich an den Protesten.
Selbst Befürworter des Rechtsrucks?
Die Netanjahu-Regierung hatte eine ausgezeichnete PR. Es ist ihnen gelungen, ihr wahres Gesicht zu verbergen. Aber jetzt haben sie ihre Masken abgenommen und die meisten erkennen mittlerweile, was sie wirklich vorhaben. Das gilt es zu verhindern. Sollten wir es schaffen, sie aufzuhalten, wäre es das Beste für die israelische Gesellschaft.
Welchen Einfluss hat die wirtschaftliche Lage auf die Proteste?
Man muss sich nur ansehen, was in anderen Ländern passiert ist, die solche Prozesse durchgemacht haben, wie zum Beispiel Ungarn, Polen, die Türkei und Venezuela. Viele Menschen leiden dort. Dass die Ökonomie aufgrund solcher Ereignisse in Mitleidenschaft gezogen wird, ist eine normale Konsequenz. Es ist wahr, dass die israelische Wirtschaft derzeit stark und solide ist, aber wir sehen bereits, dass die israelische Währung an Stärke verliert, wie auch die Börsen. Die Auswirkungen werden wahrscheinlich dramatisch sein. Sollte die Regierung mit ihren politischen Reformen erfolgreich sein, werden die Menschen womöglich kaum in der Lage sein, in diesem Land zu leben.
Könnte dies eine Art Exodus auslösen?
Die Israelis lieben ihr Land und wollen hier leben. Sie sind bereit, die Demokratie zu verteidigen. Niemand will hier weg, weil dies der einzige Ort ist, an dem wir unser Zuhause finden. Deshalb kämpfen wir so hart um den Sieg.
Wie kam es, dass Sie als Wissenschaftlerin zum Gesicht der Demonstrationen wurden?
Ich schätze, es war Zufall. Man suchte einen Ersatz für jemanden, der den Protest hier anführte. Und ich war dort und habe es anscheinend gut gemacht, und dann gab es ein paar Gelegenheiten, die dazu führten. Aber das spielt keine Rolle. Es ist die Idee dahinter, die so viele Menschen teilen. Ich bin nur eine von vielen.
Die Befürworter der Reform diffamieren die Demonstranten als Linke und Verräter. Wie gespalten ist Israel?
Die israelische Politik ist - gemäß dem Narrativ, das Netanjahu im letzten Jahrzehnt aufgebaut hat - tief gespalten. Bei den letzten Wahlen hat die Hälfte der Wähler diese Regierung unterstützt. Aber wenn man sich die jetzigen Umfragen anschaut, erkennt man einen gewaltigen Wandel, wie die nächsten Wahlen ausfallen könnten. Mittlerweile unterstützen etwa 70 Prozent der Bevölkerung - wenn nicht sogar mehr - den Protest. Ich denke, dass die Spaltung in der israelischen Gesellschaft nicht so drastisch ist, wie es die Regierung beschreibt.
Trotzdem werden Bürger für ihre Beteiligung an den Demonstrationen attackiert ...
Ohne die Einzelheiten und die Funktionsweise zu verstehen, ist es manchmal schwer zu erkennen, wie sehr soziale und Massenmedien von Netanjahu kontrolliert werden. Die einzige Kraft, die sich dem entgegenstellt, ist die einfachste Art und Weise, die man sich vorstellen kann, nämlich der Protest auf der Straße. Menschen, die sich die Informationen aus den Medien holen, bekommen nicht den richtigen Eindruck darüber. Israelis müssen wissen, dass dies die am stärksten patriotische und zionistische Veranstaltung ist, die man sich vorstellen kann.
Wo liegen die Ursprünge der Reform? Handelt es sich vielleicht auch um eine gesellschaftliche Machtübertragung, um den alten Kampf zwischen "orientalischen" und "europäischen" Juden?
Israel macht gerade ähnliches durch, was sich auch in anderen Ländern abgespielt hat, auch wenn die Debatten dort natürlich völlig unterschiedlich sind. Aber überall, wo Menschen die vollständige Macht erlangen wollen - wie Netanjahu -, unterteilen sie dies nach unterschiedlichen Dingen. Und in Israel haben sie es erneut in ein erstes und zweites Israel strukturiert. Dieses Narrativ wurde absichtlich propagiert. Ich sage nicht, dass es keine Ungerechtigkeiten gibt. Aber es ist ein Werkzeug, das der Premierminister nutzt, um das zu erreichen, was er will. Nämlich das Justizsystem zu beeinträchtigen oder zerstören, um seine Macht und Regierung zu festigen. Sein Wunsch ist es, die absolute Macht über das System zu haben, genau wie es Ungarn, Polen, der Türkei und Venezuela widerfahren ist.
Viele Piloten und Soldaten verschiedener Einheiten weigern sich, unter einer Diktatur zu dienen. Was bedeutet das für die Sicherheit des jüdischen Staates? Ist Israel in Gefahr?
Wenn Israel die Transition durchmacht, zu der uns Netanjahu und seine extremistische Regierung führen wollen, wird dieser Staat zwar immer noch den Namen Israel tragen, aber es wird nicht mehr das gleiche Land sein. Natürlich wird es eine Gefahr geben, sollte die Armee nicht ihre volle Kapazität ausschöpfen können, aber zumindest ist es eine Bedrohung für das Israel, wie wir es kennen. Es ist eine schwierige Situation. Doch wir Israelis - aufgewachsen mit der Geschichte unseres Volkes - haben uns in der Vergangenheit viele Male gefragt, warum dies und jenes nicht aufgehalten wurde. Was hätten wir getan, wenn wir in Zeiten gelebt hätten, in denen die Dunkelheit die Oberhand gewinnt? Deshalb bin ich stolz, Menschen zu sehen, die das verstehen. Es sind harte, aber auch herausfordernde Tage.
Besteht die Gefahr eines Bürgerkriegs, wenn Israel keine stabile Demokratie mehr ist?
Anhänger der Regierung haben zu einer Demonstration vor meinem Haus aufgerufen, aber es kamen nur wenige. Selbst wenn die Regierung Proteste organisiert, die sie übrigens gut bezahlt, schafft sie es kaum, auch nur ein Viertel der Menschen zu mobilisieren, die freiwillig zu unseren Demonstrationen erscheinen. Das heißt aber nicht, dass es dort keine Gruppe von Superextremisten gibt, die Schaden anrichten könnte. Es wird also keinen Krieg zwischen zwei großen Lagern geben, die gegeneinander kämpfen. Aber man sieht schon, dass es einige Verrückte gibt, die in eine Menge von Protestierenden rasen. Das ist nicht neu.
Was muss passieren, um die Wunden zu heilen?
Bei Extremisten müssen keine Wunden geheilt werden. Nur bei Gruppen, die in der Vergangenheit ungerecht behandelt wurden. Wenn wir das größte Lager definieren, dann sind das die demokratischen Menschen, die kein extremistisches Land wollen. Wie jede Umfrage beweist, ist das die Mehrheit und mit besserer PR können es noch mehr werden. Die Demonstranten fordern vom ersten Tag an, dass alle Änderungen in unserer Verfassungsstruktur auf der Grundlage eines breiten Konsens angenommen werden, an dem alle verschiedenen Gruppen beteiligt sind. 70 bis 80 Prozent der Israelis stimmen dem zu. Wir werden die Tür der Extremisten wieder schließen, die Netanjahu ihnen öffnete.
Mit Shikma Schwartzman-Bressler sprach Tal Leder
Quelle: ntv.de